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Aaltra
Zwei Männer
sitzen an einem gottverlassenen Strand im Rollstuhl. Die Flut naht, im nassen
Sand drehen die Räder durch. Bald steht das Wasser den beiden Querschnittsgelähmten
bis zur Halskrause. Im Hintergrund drehen sich wie zum Hohn unablässig
Windräder. Die Pointe der Szene: Wie ein altes Ehepaar scheinen die Männer
den Seeblick zu genießen, statt Don Quijote gleich gegen die Elemente
anzukämpfen. Dennoch wirken Benoît Delépine und Gustave Kevern,
die Autoren, Regisseure und Hauptdarsteller des schrägen Rollstuhl-Roadmovies
„Aaltra“, ein bisschen wie der mürrisch-einsilbige Ritter (Delépine)
und sein kuhäugig-strubbelbärtiger Sancho Pansa (Kevern).
Obwohl
die französischen Multitalente als Stand-up-Comedians im Fernsehen bekannt
wurden, wird in „Aaltra“ kaum ein Wort gesprochen. Absurder Bildwitz und Situationskomik
dominieren, die körnige Schwarzweißästhetik unterstreicht den
Charakter einer Stummfilmgroteske. Es beginnt mit handfestem Streit, dem Wie-du-mir-so-ich-dir
eines offenbar schon seit längerem eingespielten Teams von Dickköpfen,
irgendwo im wallonischen Teil Belgiens. Kevern, der beleibte Bauer, nebelt das
Grundstück seines Nachbarn mit Pestiziden ein, woraufhin Delépine,
ein frustrierter Pendler und Motocross-Fan, auf zwei Rädern gegen Landwirt
und Landmaschine zu Felde zieht. Im Verlauf ihrer Prügelei landen die Streithähne
unter der Ladeklappe des Traktors. Die schließt sich wie ein Sargdeckel.
Aufblende: Die Rivalen liegen vereint im Zweibettzimmer. Mit der Diagnose, für
alle Zeiten querschnittsgelähmt zu sein, werden sie aus dem Krankenhaus
entlassen.
Delépine/Kevern
halten den Behindertenalltag ihrer Protagonisten mit schonungslosem Sarkasmus
fest. Am Tresen der Stammkneipe tauchen zwischen den Gästen zwei Hände
auf, die ungeschickt nach ihren Biergläsern tasten. Dass die zu Rollstuhlfahrern
degradierten Männer auch gesellschaftlich ganz unten angelangt sind, fasst
der Film in Bilder beißender Komik. Darf er das?
Ja, weil
er gleichzeitig die kurzatmige Nächstenliebe der Normalos aufs Korn nimmt.
Etwa im Fall der holländischen Touristenfamilie, die das später durch
Nordeuropa trampende Paar zwar im Campingbus mitnimmt, es dann aber gedankenlos
den Gezeiten überlässt. Dennoch verspürt man als Zuschauer dieser
Odyssee wenig Mitleid mit den beiden, die sich zunehmend zu veritablen Rollstuhl-Rüpeln
entwickeln. Die Wut aufeinander ist erloschen, jetzt treibt sie die Empörung
über den Hersteller des Unfalltraktors nach Finnland – zu jener fiktiven
Firma namens „Aaltra“, die offenbar den Defekt der Ladeklappe zu verantworten
hat. Bevor man am Ort der Verheißung die erträumten Schadenersatz-Millionen
einkassieren kann, wird jedoch die Solidarität der Mitmenschen weidlich
ausgenutzt. Schnaps, ein Elektro-Rollstuhl und eine sündhaft teure Motocross-Maschine
werden entwendet. Gemäß dem Leitspruch, „Anarchie ist machbar, Herr
Nachbar“, orientieren sich die Protagonisten am Vorbild Albert Libertads (1875–1908),
eines behinderten Anarchisten der Belle Epoque, der seinen Gegnern mit seinen
Krücken zu Leibe rückte. Den entscheidenden Tipp zur biografischen
Neuausrichtung gibt übrigens kein Geringerer als der Aktionskünstler
Noël Godin, einer der zahlreichen Cameo-Auftritte des Films; Godin ist
berüchtigt für seine Sahnetortenattacken gegen scheinheilige Politiker.
Das Schöne
an den mal brachialen, mal absurden Stationen von „Aaltra“, mit denen Delépine/Kevern
an der landläufig eher verkrampften Haltung gegenüber Behinderten
respektlos rütteln, ist der spürbare Improvisationsgeist vieler Szenen.
Nicht wenige davon wurden mit versteckter Kamera gefilmt. So spiegelt sich echtes
Entsetzen in Gesichtern von Geschäftsmännern, die Kevern beim Betteln
am Schlips packt. Auch dem belgischen Motocross-Weltmeister Joël Robert
war die Anwesenheit der Kamera offensichtlich nicht bewusst, als er auf einer
Rennveranstaltung die Rollstuhlfahrer anraunzt: „Jungs, ihr müsst weg,
ihr zerstört den Traum.“ Am Ende dieser Irrfahrt durch ein zwischen Asphaltschwarz
und Betongrau schillerndes Absurdistan sind die Illusionen verschwunden, ganz
so wie beim bärbeißigen Vorbild Aki Kaurismäki, der – noch ein
Gastauftritt – die gescheiterten Revolutionäre am Schluss in einer finnischen
Behinderten-WG empfängt und den rätselhaften Satz spricht: „Regnen
tut’s hier nur sonntags.“ Ob „Aaltra“ damit hoffnungsvoll ausklingt, ist ebenso
schwer zu entscheiden wie die Frage, ob ein Glas halbvoll oder halbleer sei
– oder ob die Flut abläuft oder die Ebbe kommt.
Jens
Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst
erschienen in: film-dienst 10/2006
Aaltra
Frankreich
/ Belgien 2004 - Regie: Benoît Delépine, Gustave Kevern - Darsteller:
Benoît Delépine, Gustave Kevern, Aki Kaurismäki, Jan Bucquoy,
Pierre Carl, Michel De Houx, Isabelle Delepine, Jason Flemyng - Fassung: O.m.d.U.
- Länge: 92 min. - Start: 4.5.2006
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