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Accattone – Wer nie sein
Brot mit Tränen aß
"Accattone"
beginnt mitten in einem Gespräch einer Gruppe junger Männer, die draußen
vor einer Osteria sitzen. Temperamentvoll wird darüber diskutiert, ob man
mit vollem Magen ins Wasser springen kann, ohne dabei gesundheitlichen Schaden
davon zu tragen. Der Lauteste unter ihnen ist Vittorio (Franco Citti), genannt
"Accattone", der sogleich eine Wette dazu anbietet, um zu beweisen,
dass ihm das nichts ausmacht. Von seinen Freunden und einer immer größer
werdenden Menge an Leuten begleitet, betritt er ein Restaurant, um sich den
Bauch voll zu schlagen. So gemästet begibt er sich auf eine Brücke
und springt elegant in einen Fluss, um kurz danach unter Applaus wieder das
Ufer zu betreten.
Pier Paolo Pasolini beginnt mit einem Höhepunkt in Accattones Leben und
leitet damit sogleich seinen Niedergang ein. Schon in seinem ersten Film sind
die wichtigsten Elemente seiner Filmsprache zu erkennen, die stark in Opposition
zu seinen italienischen Kollegen Visconti und Antonioni stehen. Selbst von Fellini,
mit dem er zuvor gemeinsam Drehbücher schrieb, hatte er sich inzwischen
abgewendet.
Pasolinis Bilder sind grob und direkt und scheinen wie zufällig zu entstehen.
Es sind keine komponierten Panoramabilder und keine grafisch aufgebauten Blickwinkel
zu sehen. Selbst wenn sich der Fokus der Kamera öffnet und den Blick auf
die Gebäude Roms freigibt, die an die armseligen Hütten und Ruinen
grenzen, in denen Accattone und seine Freunde hausen, wirkt das wie ein kurzer
Seitenblick, ohne besondere Konzentration auf das abgebildete Objekt. Ganz anders
verfährt Pasolini mit den Menschen, die hier leben. Ihnen ist er ganz nah
und blickt mit seiner Kamera tief in ihre Gesichter, die gezeichnet sind von
der ständigen Gratwanderung zwischen dem Wunsch nach einem besseren Leben
und der Resignation, dieses nie erlangen zu können.
Selbstverständlich ist Pasolinis Bildsprache bewusst eingesetzt, was besonders
deutlich an dem starken Schwarz-Weiß-Kontrast seiner Bilder zu erkennen
ist. Immer wieder taucht er die Gesichter seiner Protagonisten in Schatten,
zeigt sie im Gegenlicht und betont damit noch zusätzlich die staubige sonnenüberflutete
Trockenheit ihrer trostlosen Umgebung. Anders als bei Visconti, dessen Bildsprache
in seinem Frühwerk "Ossessione" ähnlich kraftvoll wirkte,
will Pasolini mit seinen Bildern nicht emotional berühren, sondern nur
beschreiben. Damit bildet seine niemals mit offensichtlichen Mitteln bewertende
Erzählweise und seine Filmsprache eine kongeniale Einheit, die sich jeder
üblichen Erwartungshaltung verweigert.
Vielleicht lag das an Pasolinis Erfahrungen, die der fast 40jährige in
seinen Film einfließen ließ. Er war noch von den Faschisten verfolgt
worden, aber auf Grund seiner Homosexualität, zu der er sich früh
bekannte, war er ebenfalls von den Kommunisten, denen er sich begeistert angeschlossen
hatte, verwiesen worden. Dass er sich zu den ärmsten Bewohnern Roms angezogen
fühlte, war bekannt und ist nicht nur an Hand der sehr genauen Beschreibung
der Charaktere zu erkennen, sondern auch an der großen Zahl an Laiendarstellern,
die die Szenerie äußerst authentisch wirken lässt.
Schon der Titel "Accattone" lässt Pasolinis differenzierte Sichtweise
erkennen, denn trotz seiner Bedeutung "Vagabund" oder "Bettler"
empfindet Vittorio diesen Namen als Auszeichnung. Obwohl ihre wirtschaftliche
Lage miserabel ist und ihre gesellschaftliche Stellung den Tiefpunkt darstellt,
haben sich die Menschen in diesem Viertel am Rande Roms einen gewissen Stolz
bewahrt. Pasolinis Film zeigt facettenreich, wie Accattone versucht sich durchzuschlagen,
ohne einer "anständigen" Arbeit nachgehen zu müssen. Dabei
verzichtet er auf offensichtliche politische Botschaften, spricht weder von
Arbeitslosigkeit oder fehlenden sozialen Unterstützungen, sondern vermittelt
den Eindruck, dass der Staat, die Polizei oder sonstige Institutionen als mögliche
Helfer aus dem Elend gar nicht existieren. Die eindrucksvolle Wirkung des Films
entsteht durch die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Missstände
beschrieben werden und die völlige Hoffnungslosigkeit auf eine Veränderung.
Zu Beginn lebt Accattone noch von Maddalena (Silvana Corsini), die als Prostituierte
für ihn arbeitet. Unter den Armen gibt keineswegs eine verbindende Solidarität,
wie sie gerne von Wohlhabenden zur Selbstberuhigung kolportiert wird. Wer Hunger
hat und um jede Lira (und damit Anerkennung) kämpfen muss, kennt keine
Freunde mehr. So schlägt ein feindlicher Zuhälter, der sich zuvor
noch mit Accattone verbrüdert hatte, Maddalena zusammen, die dann aus Angst
die Falschen anzeigt und im Gefängnis landet. Accattone versucht darauf,
wieder bei seiner Frau und seinen Kindern unterzukommen, die aber nichts mehr
von ihm wissen wollen, so dass er von seinem Schwager und Schwiegervater verprügelt
wird.
Bei der Schilderung dieser tragischen Ereignisse bleibt Pasolini völlig
lakonisch. Alles wirkt natürlich und das Verhalten jedes Einzelnen ist
nachvollziehbar. Das liegt auch an der Hauptfigur Accattone, die Pasolini deutlich
in den Mittelpunkt rückt. Vittorio verfügt zwar über einen gewissen
Charme, der ihn auch mit Stella (Franca Pasut) eine neue Frau gewinnen lässt,
aber das ändert nichts an seiner Grobheit und Rücksichtslosigkeit
bei der Durchsetzung seiner Interessen. Pasolini bietet hier keinerlei Identifikation
an, er zeigt keine Auflehnung gegen das Unrecht und selbst die Tragik dieser
Lebenssituation erschließt sich nicht, da dazu immer auch das Gefühl
einer verpassten Chance gehört.
Mit dieser fast dokumentarischen Sichtweise provozierte er die römischen
Politiker so sehr, dass diese den Film verboten, aber er fand auch keine Freunde
bei Kritikern des Systems. Das lag nicht nur daran, dass Pasolini weder solidarische
noch emotionale Gefühle ansprach, sondern dass er den Film, der sonst auf
eine Filmmusik verzichtete, mit konzertanten Werken von Johann Sebastian Bach
untermalte, die gezielt zu Szenen eingesetzt werden, in denen Accattone besonders
leiden muss. Die Wirkung, die er dadurch erzielt und die er mit religiösen
Symbolen noch unterstützt, steht im völligen Gegensatz zu seiner sonstigen
Filmsprache und stilisiert Accattone zum Märtyrer.
Dieser Kunstgriff verdeutlicht Pasolinis letztendliche Intention. Natürlich
wollte er anklagen und provozieren, aber nicht durch eine typische emotionale
Filmsprache, die aus seiner Sicht immer von irgendeiner Seite entweder zur Verharmlosung
oder zum vordergründigen Mitleid missbraucht worden wäre. Dazu bietet
"Accattone" keinen Anlass, aber dank Bachs Musik verarbeitet Pasolini
hier seine innere kontroverse Haltung zur Kirche, der er zwar keinerlei Hilfe
zutraut, deren Symbole er aber benutzt, um seine Haltung bewusst künstlerisch
zu verdeutlichen.
Udo Rotenberg
Accattone
- Wer nie sein Brot mit Tränen aß
ACCATTONE
Italien
- 1961 - 115 min. – schwarzweiß - Verleih: Neue Filmform/prokino - Erstaufführung:
18.6.1963/10.11.1969 ZDF/11.4.1982 DFF 2 - Produktionsfirma: Arco/Cino del Duca
- Produktion: Alfredo Bini
Regie: Pier
Paolo Pasolini
Buch:
Pier Paolo Pasolini
Vorlage:
nach seiner Novelle
Kamera: Tonino
Delli Colli
Musik: Johann
Sebastian Bach
Schnitt:
Nino Baragli
Darsteller:
Franco Citti
(Accattone)
Silvana Corsini
(Maddalena)
Franca Pasut
(Stella)
Paolo Guidi
(Ascenza)
Luciano Conti
(Giorgio)
Adriana Asti
(Amore)
Adriana Moneta
(Margheritona)
Luciano Gonini
(Luciano)
Renato
Capogna (Renato)
Die DVD ist im Rahmen einer Reihe
mit Pasolini-Filmen bei der Filmgalerie 451 [www.filmgalerie451.de] erschienen, enthält keine
nennenswerten Extras und ist ab rund 15 Euro im Handel erhältlich
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