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Alles
was ich an euch liebe
Im Fahrstuhl fallen Leni und Rafi
übereinander her. Sex ist ihr Allheilmittel gegen Stress. Eben noch ein
Quickie – schließlich ist es keine leichte Übung, wenn eine junge
Frau ihrer Familie den Verlobten präsentiert. Aber vor allem: Leni ist
Jüdin – Rafi Palästinenser, was Lenis in Spanien lebende Familie nicht
erfahren darf. Ein Stoff für eine Tragödie, der nach dem Scheitern
einer großen Liebe klingt, nach Romeo, Julia und Doppelselbstmord. Vor
dem politischen Hintergrund eines immer noch ungelösten, vielleicht unlösbaren
Konfliktes ist das Grundproblem des Films zumindest brisant. Doch die Eheleute
Teresa de Pelegri und Dominic Harari (Buch und Regie) interessierte die Geschichte
als Komödienstoff. Also treten die Liebenden nicht als perfektes Paar auf,
sondern als Figuren mit Ecken und Kanten. Und Lenis Familie, die dem jungen
Glück eher im Weg steht, wächst dem Zuschauer im Filmverlauf durchaus
ans Herz. „Alles was ich an euch liebe“ überzeugt als liebevoll gezeichneter
Familienkatastrophenfilm voll glaubwürdiger Charaktere und subtilen Humors.
Aber auch die derbe Situationskomik
findet im Appartement der Dalinskys statt, einer jüdischen Mittelklassefamilie.
Rafi, als Palästinenser noch unerkannt, macht sich im Haushalt nützlich.
Eine sehr komische Figur macht der spanische Sitcom-Star Guillermo Toledo, wenn
er wäschekorbtragend und mit stoischer Miene den Redeschwall der frustrierten
Mutter Gloria über sich ergehen lässt (sympathisch: Norma Aleandro).
Doch Rafi ist keine gute Hilfe. Dem Unglücksraben flutscht ein großer
Block eingefrorener Suppe aus dem Fenster und trifft zehn Stockwerke tiefer
den Kopf eines Passanten. Zunächst erfährt das nur Leni. Die rät,
das Malheur zu vertuschen. Irgend
jemand wird schon einen Krankenwagen rufen.
Sehr überzeugend schwankt Marian Auguilera als Leni zwischen Besorgtheit
und Kaltschnäuzigkeit.
Das unbemerkte Unglück trifft
keine heile Familie. Mutter Gloria nimmt Antidepressiva, weil sie vor dem Scherbenhaufen
einer Ehe steht: „Eher kriegt Israel Frieden, als ich einen Orgasmus mit Papa.“
Auch sorgt sie sich um Lenis Geschwister, die noch zuhause wohnen: David (Fernando
Ramallo) läuft psalmodierend durch die heimische Enge, weil er sich zum
orthodoxen Judentum berufen fühlt. „Immer noch besser, als wenn er Drogen
nimmt“, kommentiert Gloria. Tochter Tania (María Botto) dagegen betätigt
sich als Nymphomanin und macht den Bräutigam ihrer Schwester mit Bauchtänzen
an, während ihre kleine Tochter mit einem Schwangerschafts-Tick nervt.
Und Großvater Dudu (Max Berliner), verwirrt und blind, aber militärisch-zackig
wie Opa Hoppenstedt, hält sein Gewehr aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg
in Bereitschaft.
Die Handkamera von Denny Cohen
lässt die vibrierende, ja hysterisierte Atmosphäre dieses Familienabends
mit seinen kleinen und großen Missgeschicken beinahe körperlich spüren.
Und die aufgeregten Klezmerklänge von Charlie Mole vertreiben nicht den
wehmütigen Unterton, der dieses Familientreffen begleitet. Eine universale
Familienmelancholie, die wohl jeder schon erlebt hat.
Im Vordergrund stehen aber praktische
Probleme: Wo ist die Suppe? Und wo bleibt Papa? Unten auf der Straße liegt
immer noch ein Mann. Könnte der „Tote“ Ernesto sein, das Oberhaupt der
Familie, das nicht zum Essen erschienen ist? Warum holt niemand einen Krankenwagen?
Beunruhigt steigt Rafi auf den Spülkasten, um aus dem Klofenster zu spähen.
Als Opa Dudu zum Wasserlassen hereinschlurft, kommt es zum peinlichen Zusammenstoß.
Eine Gratwanderung zwischen Slapstick
und melancholischem Humor, die nicht überall im Film funktioniert. Im letzten
Drittel gibt es Schwachpunkte, etwa da, wo wir der nächtlichen Odyssee
des „Suppenopfers“ folgen, das sich in der Tat als Vater Ernesto erweist. Mit
Platzwunde und verlorenem Gedächtnis irrt er durch die Stadt. Hier tragen
Pelegrini und Harari ziemlich dick auf, wenn sich der Patriarch von einer farbigen
Prostituierten aufgabeln lässt und sie prompt für seine Ehefrau hält.
Bevor Ernesto in den Schoß
der Familie zurückkehren kann, droht den Dalinskys zuhause die Kontrolle
endgültig zu entgleiten. Leni rast vor Eifersucht, weil ihre Schwester
mit Rafi geflirtet hat. Da hilft kein Quickie mehr. Und David, der vielleicht
nur Halt in der Thora sucht, weil er noch kein Mädchen hat, deckt Rafis
Identität auf, geht mit Opas Gewehr auf seinen Schwager in spe los. Jeder
Konflikt treibt nach oben, bis er sich nach Komödienart von selber löst.
Leni und Rafis Liebe droht im Familienkrach unterzugehen. Doch schließlich
finden sich die Liebenden auf der Straße wieder und reden sich endlich
ihren Dissens in Sachen Israel und Palästina von der Seele – ein Streitthema,
dass sie zuvor tunlichst unter den Tisch gekehrt haben. Und mit dem aus einem
Billy-Wilder-Film entlehnten Zauberwort „Nobody is perfect“ ist die Sache geklärt
und die Liebe gerettet. Du bist Araber, ich bin Jüdin – na
und? Und alles ist gut, im Kino wenigstens.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst
Alles
was ich an euch liebe
Spanien
/ Argentinien 2004 - Originaltitel: Seres queridos - Regie: Teresa de Pelegri,
Dominic Harari - Darsteller: Norma Aleandro, Guillermo Toledo, María
Botto, Marián Aguilera, Fernando Ramallo - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Länge: 89 min. - Start: 1.12.2005
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