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American
Hardcore
Der „Jefferson Airplane“- Sängerin und Hippie-Ikone
Grace Slick wird der Satz nachgesagt, wonach diejenigen, die in den 1960er-Jahren
wirklich „dabei“ gewesen seien, sich wohl beim besten Willen kaum daran erinnern
dürften. Betrachtet man dagegen Paul Rachmans informative Musikdokumentation,
ist man einigermaßen erstaunt über die schiere Anzahl der zumeist
gutgelaunten und gesunden älteren Herren und Damen, die anekdotisch und
durchaus selbstironisch über ihre teilweise länger als 25 Jahre zurückliegenden
subkulturellen Eskapaden berichten. Zumal sich diese mitunter als äußerst
ungesund erwiesen. Hardcore Punk verstand sich selbst als die verdichtete, elementarere,
von allen Glam-Elementen gereinigte Version von Punk-Rock – als „the real thing“.
An einer Stelle des Films heißt es bezeichnenderweise, dass die originalen
Punkbands in Los Angeles oder New York 1976 Musiker gewesen seien, die Punk
als Stilmittel adaptierten, während die zweite Generation von Punks als
Dilettanten ihre Instrumente erst nach dem Hören der ersten Punk-Alben
erlernten. So erklärt sich wohl auch die eigentümliche Mischung aus
Aggression und Energie, die in sehr kurze und sehr schnelle Songs gegossen wurde.
Die bekannteren Bands dieser zweiten Generation, also der ersten Stunde von
Hardcore waren u.a. D.O.A., Black Flag, Bad Brains, Dead Kennedys, Hüsker
Dü, Flipper, Circle Jerks, Minuteman, Minor Threat, Suicidal Tendencies,
SS Decontrol, Cro-Mags, Die Kreuzen, Millions Of Dead Cops oder Gang Green.
Die Bands agierten zunächst in regionalen Szenen (South L.A., Portland,
Minneapolis oder Washington, D.C.); erst allmählich kam es zu überregionalen
Vernetzungen, Rivalitäten und legendären, auch gewalttätigen
Begegnungen.
Interessant sind die historischen Herleitungen für
das Auftauchen von Hardcore, die die Akteure von damals aus heutiger Sicht liefern.
Die erste Präsidentschaft Reagans wird als Indiz eines umfassenden gesellschaftlichen
Backlash begriffen, der darauf abzielte, die im Gefolge der libertinären
1960er-Jahre (Feminismus; Bürgerrechtsbewegung) ins Gleiten geratene alte
Ordnung zu restaurieren. Hardcore, so die Protagonisten, reagierte negativ auf
die fadenscheinige und retrograde Ideologie des Konsumismus, und zwar mit dem
Konzept des Do-it-yourself. Abgelehnt wurden der in der Gesellschaft der frühen
1980er-Jahre vorherrschende Materialismus und auch die propagierte Aufwertung
der scheinbar „heilen“ 1950er-Jahre. Neben der politischen Anti-Haltung richtete
sich Hardcore ästhetisch gegen den Mainstream-Rock der 1970er-Jahre von
Bands wie The Eagles oder Fleetwood Mac. Aus Frustration und Entfremdung schöpfte
die jugendkulturelle Rebellion von Hardcore ihre Kraft: „Von Jugendlichen für
Jugendliche“, heißt es im Film; Kontakte mit den Majorlabels waren quasi
ausgeschlossen.
Mit zahlreichen, zumeist eloquenten und auskunftsbereiten
Zeitzeugen sowie vielfältigem dokumentarischem Foto- und Filmmaterial rekonstruiert
Rachman die kurze Blütezeit von Hardcore bis etwa 1985/86, als die Szene
aus verschiedenen äußeren und inneren Gründen implodierte. Hardcore
ergab sich der Gewalt und wurde zum Opfer von polizeilicher Willkür; zudem
hatten sich die Akteure in ruhelosen Jahren erschöpft und waren wohl auch
politisch enttäuscht von der Wiederwahl Reagans. Rachman skizziert den
historisch-politischen Hintergrund der Bewegung, beschreibt deren innere Entwicklung
von der ästhetisch unbedarften Rebellion hin zu immer größerer
Professionalität – wobei der Film musikalisch in der Musik von Flipper,
den späten Black Flag und den stets famosen Bad Brains gipfelt und auch
nicht mit kritischen Einschätzungen bestimmter Entwicklungen spart. Überraschend
für eine derart „negative“ Jugendkultur ist der Umfang der erhaltenen Artefakte,
Fotos, Filmaufnahmen, Schallplatten und Poster, mit denen der Filmmacher die
vielen Interviews unterfüttert. Man begegnet legendären Typen wie
Greg Ginn, Henry Rollins, Mike Watt oder dem sehr reflektierten Sänger
der Bad Brains, Paul „H.R.“ Hudson; andere Protagonisten der Bewegung wie Jello
Biafra von den Dead Kennedys scheinen sich verweigert zu haben. Insgesamt ist
die klar strukturierte, dem Thema entsprechend rasant montierte Musikdokumentation,
die auch Themen wie die Rolle von Frauen in dieser Subkultur streift, nicht
nur für nostalgische Fans des Genres sehenswert. Denn mögen die meisten
Bands auch vergessen sein, die Haltung von Hardcore inspirierte ungleich bekanntere
Gruppen wie die Pixies, Nirvana oder die Beastie Boys. Für die US-Bands,
die die Musikindustrie mittlerweile als Punk feilbietet, haben die Protagonisten
von „American Hardcore“ übrigens nur ein müdes Lächeln übrig.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: film-dienst
American
Hardcore
USA
2006 - Regie: Paul Rachman - Darsteller: Keith Morris, Joey “Shithead” Keithley,
Paul “H.R.” Hudson, Greg Ginn, Henry Rollins, Ian MacKaye, Chris Foley, Lucky
Lehrer, Vic Bondi, Perry Webb, Bobby Steele, Greg Hetson - Länge: 100 min.
- Start: 14.12.2006
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