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Angst
vor der Angst
Warum läuft
Frau S. nicht Amok?
1970 veröffentlicht Rainer Werner Fassbinder
seinen Film "Warum
läuft Herr R. Amok?". Darin
wirft er die unbeantwortbare Frage des Titels auf, indem er einen scheinbar
normalen Mann im Zentrum seiner kleinbürgerlichen Existenz plötzlich
und ohne Grund zuerst seine gesamte Familie und dann sich selbst auslöschen
läßt. Den Weg dahin beschreibt Fassbinder als einen Gang durch die
Hölle der Uneigentlichkeit: Das Kleinbürgerdasein mit seinen Tabus
und Konventionen, der triste Alltag, der jeden Versuch von Andersartigkeit mit
aller Härte abstraft - sie sind es, die Herrn R. Amok laufen lassen.
Nur fünf Jahre später stellt Fassbinder
eine alternative Lesart vor: Im Haus gegenüber von Herrn R.s Wohnung -
könnte man meinen, denn der mysteriöse Nachbar, der am Ende von "Angst
vor der Angst" erhängt aufgefunden wird, wird abermals von Kurt Raab
verkörpert - lebt Margot Staudte mit ihrem Mann und ihren beiden kleinen
Kindern. Während der Schwangerschaft mit dem zweiten Kind entwickelt sie
eine tiefe Depression, die von den Ärzten verkannt und von ihrer Familie
ignoriert wird. Margot klammert sich umso verzweifelter an ihr bürgerliches
Dasein, versucht gute Mutter und Ehefrau zu sein, doch nach der Geburt reißen
die Zügel, und sie ergibt sich zuerst einer Valium-Abhängigkeit, dann
dem Cognac und schließlich begeht sie einen Suizidversuch. Auf ihrem Leidensweg
und selbst noch nach diesem letzten Hilfeschrei stößt sie nur auf
Unverständnis seitens ihres Ehemanns und eines Psychologen sowie scharfe
Ablehnung seitens der Familie ihres Mannes, die im selben Haus wie sie wohnt.
Fassbinder, so scheint es, eröffnet mit "Angst
vor der Angst" eine in ihrer Drastik zwar nicht mehr so radikale Perspektive
auf die soziale und psychologische Fallgeschichte, doch liefert er anders als
bei "Warum läuft Herr R. Amok?" hier eine nachvollziehbare Anamnese
ab. Sogar optisch verdeutlicht er, was in Margot vorgeht, wenn er immer wieder
ihre Subjektive mit verschwimmenden Bildern illustriert. Die bei Fassbinder
gewohnt eloquente Kameraarbeit leistet ein übriges, um das langsame Verschwinden
Margots aus der Normalität zu inszenieren: Oft steht sie hinter halb geöffneten
Türen, ihr Gesicht halb draußen, halb im Raum, die Kamera beobachtet
sie durch Spiegel, von denen die ganze Wohnung Margots vollgehängt ist,
oder liefert extreme Nahaufnahmen von ihrem Gesicht, wie es in all seiner Wachshaftigkeit
von einer wortlosen Hysterie in die nächste driftet.
"Angst vor der Angst" ist damit ungleich
wortreicher als Fassbinders psychologische und soziale Kollaps-Studien zuvor
und beendet jene Phase des Regisseurs, die durch Filme wie "Angst essen Seele
auf", "Martha" und "Mutter
Küsters' Fahrt zum Himmel"
bestimmt war - Filme, die nur an den Konsequenzen, nicht aber an den Symptomen
des Untergangs interessiert zu sein schienen.
Die "Angst vor der Angst"
ist jedoch weit davon entfernt, ein Film über die Möglichkeiten der
Psychiatrie zu sein. Sogar anti-psychiatrische Züge sieht Elsaesser in
ihm wirken und bringt den Film mit Fassbinders kurz zuvor gemachter Rezeption von Peter
Robinson "Laing's Asylum" in Verbindung. Von der "Beruhigungsspritze",
die Margot zu Beginn vom Hausarzt bekommt, bis hin zur Valium-Abhängigkeit,
in die er sie stürzt (und in deren Verlauf sie von ihrem Apotheker mißbraucht
wird) bis hin zur fatal falschen, weil den fragilen Familienfrieden endgültig
zerschmetternden Diagnose "Schizophrenie", welche ihr Therapeut stellt,
wird kein gutes Haar an den klinischen Methoden gelassen. Erst die beruhigende
Aufklärung gegen Ende des Films von einer Therapeutin, die nicht ohne Grund
vor einem Bild von Sigmund Freud sitzt und den Fall als klare Depression klassifiziert,
scheint eine gewisse Versöhnung mit der Psychologie anzudeuten.
Doch nach der Katastrophe - und wie wäre es
bei Fassbinder anders denkbar - kommt Lethargie. Margot ist nun teilnahmslos
"normal", als "Herr R." aus dem Haus gegenüber mit
den Füßen zuerst getragen wird. Das "Fade out", das Fassbinder
sich im im selben Jahr erschienenen Film "Mutter Küsters' Fahrt zum
Himmel" am Ende nicht gewagt hatte zu zeigen (in der veröffentlichten
Fassung endet der Film mit einem Knall - in der ersten Fassung wird die Sache
in der Redaktion einfach "ausgesessen", bis die Terroristen keine
Lust mehr haben), setzt er hier nun um. Die bürgerliche Existenz mit all
ihrer Fadenscheinigkeit gewinnt schleichend die Oberhand. Es braucht radikalere,
weniger psychische, mehr soziale Sprengkraft, um daran etwas ändern zu
können.
Kinowelt hat schon vor einiger Zeit den Faden, den
e-m-s mit ihrer Fassbinder-Kollektion fallen ließ, wieder aufgenommen
und zeigt mit der Veröffentlichung von "Angst vor der Angst",
daß sie auch den kleineren, unbekannteren Werken eine Chance geben. Ohne
viel Drumherum (es gibt keine Extras auf der DVD, die zum Film selbst gehören),
präsentieren sie Fassbinders TV-Produktion und schließen damit eine
weitere Lücke im verfügbaren Œuvre des vielleicht letzten deutschen
"Filmemachers". Bild und Ton sind nicht auf der Höhe des für
das Medium Gewohnten, aber trotzdem gut. Etwaige Unschärfen sind wohl der
Konservierung des Films in den Archiven geschuldet. Eigens restauriert wie die
Filme in der Kollektion von e-m-s wurde "Angst vor der Angst" sicherlich
nicht, dies wirkt sich jedoch positiv auf den Preis der DVD aus.
Der Film ist, als Randereignis zwischen zwei filmischen
Phasen des Regisseurs, in jedem Fall ein Muß für all jene, die sich
für das Werk Fassbinders interessieren und mit seiner Wiederaufnahme von
Motiv-Fragmenten aus "Warum läuft Herr R. Amok" und "Mutter
Küsters' Fahrt zum Himmel" ein interessantes werkübergreifendes
Phänomen.
Stefan Höltgen
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Schnitt
Angst
vor der Angst
D
1975. R,B: Rainer Werner Fassbinder. K: Jürgen Jürges, Ulrich Prinz.
S: Liesgret Schmitt-Klink. M: Peer Raben. P: WDR. D: Margit Carstensen, Ulrich
Faulhaber, Constanze Haas, Brigitte Mira u.a. 88Min.
DVD:
Kinowelt
(Arthaus)
Sprache:
Deutsch
1:1,33/Mono
Dolby Digital
88
Min.
DVD-Erscheinungstermin:
4.10.2005
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