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Balzac
und die kleine chinesische Schneiderin
Wie
gerne hätte ich zum Abschluss dieses Kinojahres noch einmal eine richtige
Hymne auf einen phantastischen Film verfasst! Aber, wie das so ist: Filme, die
man potentiell als gelungen ansehen kann, erfüllen ihre Erwartungen nicht,
und die wirklich großen Momente des Kinojahres sind Filme, an die man
zunächst vielleicht nicht gedacht hätte. Anstelle einer Hymne also,
wie aus der Einleitung dieser Rezension schon erkannt werden kann, eine Elegie
auf etwas, das großartig hätte werden können.
"Balzac
und die kleine chinesische Schneiderin" ist die chinesische Verfilmung
eines Buches, das sogar ziemlich erfolgreich war und vieles vereint, das auch
auf der Leinwand spannend und schön hätte werden können. Die
Geschichte ist hauptsächlich im Jahre 1971 angesiedelt: Die große
Revolution schwappt über das Land, Intellektuelle werden zur Umerziehung
in die Betriebe und die Produktion geschickt, und entsprechend eröffnet
auch der Film im ersten Bild den Blick über eine phänomenale Naturkulisse,
nämlich eine grüne chinesische Bergwelt. Zwei junge Männer, Luo
und Ma, werden hierher geschickt: Als gebildete Söhne subversiver Eltern
(man denke sich: Der eine Vater, ein Zahnarzt, hatte dem ehemaligen Provinzgouverneur
eine Plombe eingesetzt!) sollen sie bei
den
Bergbauern umerzogen werden. Bücher werden per se verboten, selbst ein
Kochbuch, das zu lukullischen Genüssen verleiten könnte, wird verbrannt,
die Violine nur gestattet, weil nach Aussage der beiden Freunde schon Mozart
Kommunist war und ein Lied auf den großen Mao geschrieben hatte (das sich
als Sonate entpuppt). Während also die beiden Männer tagsüber
zur Feldarbeit geschickt werden und abends miterleben dürfen, wie ein als
"Vierauge" (der uralte Witz: Der Herr ist schlicht ein Brillenträger)
bekannter ehemaliger Intellektueller, nunmehr umerzogen, kommunistische Reden
schwingt und der Brigadenchef, von neu gewonnener Macht überwältigt,
zur Despotie neigt, plätschert der Film dahin, und trotz dem Zugeständnis,
dass eine Exposition oftmals vonnöten ist, wird der Spannungsbogen über
all den hübschen Bildern doch erheblich vernachlässigt.
Schwung
kommt in die Geschichte, als die Enkelin des Schneidermeisters auf den Plan
tritt. Wenig überraschend kommt alsbald auch Liebe auf, und die verbotenen,
aber heimlich gestohlenen Romane subversiver Schriftsteller wie Stendhal, Dostojewski
und Balzac machen eine Annäherung an die nach höherem Strebende junge
Dame möglich. Die menage à trois vollzieht sich einigermaßen
friedlich, denn echte Freunde kann natürlich nichts trennen (das kennt
man ja seit Truffauts "Jules et Jim", einem Werk, das mindestens in
der Kussszene ziemlich offensichtlich kopiert, oder freundlicher ausgedrückt
zitiert wird), und der Film plätschert eine weitere Stunde dahin. Und als
man sich daran gewöhnt hatte, dass außer schöner Natur in diesem
Werke nichts Sehenswertes vorhanden sein würde, wird einem auch noch diese
genommen, denn in der letzten halben Stunde bewegt sich der Film einigermaßen
unmotiviert in die Moderne hinein, großgewordene Freunde treffen sich
wieder, der neue Staudamm wird die Gebirgslandschaft vernichten, und ach! nun
ist auch noch die Natur hinfort und durch Shanghai-Großstadtbilder ersetzt
worden...
Bis
hierhin konnte vermutlich schon von allen Lesern die Tendenz meiner Rezension
bemerkt werden: Der Film suhlt sich geradezu in seinen Bildern. Die sind auch
zugegebenermaßen berauschend, allerdings könnte die Betrachtung eines
entsprechenden Photo-Bildbandes ähnlich informativ sein. Die Schauspieler
sind nett, aber nichts Besonderes (Ye Liu, Kun Chen, Xun Zhou), von allen dreien
hat man noch nichts gehört. Die Geschichte, die philosophisch (als Diskurs
über die Begegnung von Moderne und alter Welt), literarisch (durch die
zahlreichen Romane und Schriftstellerfiguren), spannend (als Auflehnung der
drei gegen das herrschende Regime), bewegend (als Liebesgeschichte) oder was
auch immer hätte
werden können, wird gar nichts. Das ist schlicht enttäuschend, denn
das Potential war ohne Zweifel vorhanden. Die langsame Erzählweise, die
selbst über unglaublich dramatische Situationen einfach hinweggeht (die
Verbrennung des Buches! die Abtreibung!), verrührt alles zu einem Einheitsbrei,
der letztlich niemandem mehr schmecken kann. Wenn schon auf einen Spannungsbogen
verzichtet wird (und explizit endet der Film ja nicht an einem logischen Ende,
sondern knüpft noch diverse Erzählstränge an), muss anderweitig
Aufmerksamkeit erzeugt werden, das geschieht aber gar nicht. Sijie Dai, Regisseur
und auch Autor des dem Film zu Grunde liegenden Romans, scheint schlicht nur
von den Bildern gefangen worden zu sein. Dafür sind aber zwei Stunden Kino
entschieden zu lang. Was bleibt? Klar, die Natur, überlang, aber großartig.
Ansonsten: Langeweile pur. Enttäuschend.
Benjamin
Stello
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei: ciao.de
Balzac
und die kleine chinesische Schneiderin
OT:
Balzac et la petite tailleuse chinoise, Frankreich und China 2002
Regie:
Sijie Dai
Darsteller:
Xun Zhou, Ye Liu, Kun Chen
Länge:
120 Minuten
Freigabe:
ab 6 Jahren (berechtigt)
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