zur startseite
zum archiv
Bei Anruf
– Mord
Gibt es den perfekten Mord? In der
»Gelegenheitsarbeit« »Dial M für Murder«, die Hitchcock
1954 ablieferte, ging er dieser Frage einmal mehr auf den Grund. In der weiblichen
Hauptrolle ist Grace Kelly zu sehen, die zum damaligen Zeitpunkt noch kein Weltstar
war (obwohl sie 1952 neben Gary Cooper in »High
Noon«, Regie:
Fred Zinnemann, zu sehen war) und danach in »Rear
Window« (1954,
»Das Fenster zum Hof«, 1954, mit James Stewart) und »To Catch
A Thief« (»Über den Dächern von Nizza«, 1955, mit
Cary Grant) zu Ruhm gelangte. Der Film spielt fast ausschließlich in einem
Raum (wie schon »Rope«, »Cocktail für
eine Leiche«, 1948, das ebenfalls nach einem erfolgreichen Theaterstück
gedreht worden war).
Tony
Wendice (Ray Milland) war früher Tennis-Champion. Doch
das ist lange her. Weil er nicht in Armut sein Leben beenden will, hat Wendice
die reiche Margot (Grace Kelly) geheiratet. Da es sich – jedenfalls von seiner
Seite aus gesehen – nicht um eine Liebesbeziehung handelt, ist Wendice stets
auf der Hut. Was wenn Margot sich eines Tages von ihm scheiden lassen will?
Und jetzt interessiert sie sich auch noch auffällig für den Schriftsteller
Mark Halliday (Robert Cummings). Das beste wäre, Margot würde aus
seinem Leben verschwinden. Daher heckt er einen Plan für den perfekten
Mord aus. Er erpresst seinen ehemaligen Schulkameraden Lesgate (Anthony Dawson)
mit dessen krimineller Vergangenheit. Lesgate soll Margot in der Wohnung erdrosseln.
Wendice versteckt den Schlüssel vor der Wohnungstür, damit Lesgate
ohne Einbruch hineingelangen kann. Wendice selbst will sich während der
Tat ein perfektes Alibi verschaffen: Er geht in den Club und trifft sich dort
mit Halliday.
Doch dann geschieht etwas, mit dem
Wendice nicht gerechnet hat. Margot kann sich aus dem Würgegriff Lesgates
befreien und ersticht ihn mit einer Schere. Wendice muss sich etwas einfallen
lassen. Er überzeugt Chefinspektor Hubbard (John Williams) davon, dass
Margot Lesgate vorsätzlich ermordet habe, um einen Mitwisser ihrer angeblichen
Beziehung zu Halliday zu beseitigen. Margot wird wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Mark Halliday jedoch und auch Inspektor
Hubbard hegen Zweifel. Sie stellen Wendice eine Falle ...
Hitchcock verzichtete darauf, die
Vorlage, ein Theaterstück von Frederick Scott, zu »lüften«,
das heißt, er hielt sich streng an die Vorlage. »Dial M for Murder«
spielt fast ausschließlich in einem Raum, in dem für die Dreharbeiten
ein Graben gebaut wurde, so dass mit der Kamera in Höhe des Fußbodens
gefilmt werden konnte. Das hatte noch einen anderen Grund. Warner Bros. wollte
unbedingt, dass der Film im 3D-Format aufgenommen wird – eine Technik, die sich
nicht durchsetzte und für die sich Hitchcock überhaupt nicht interessierte.
Jedenfalls war er – abgesehen davon – der Meinung, man müsse sich bei der
Verfilmung eines Theaterstücks auf das konzentrieren, was das Stück
selbst ausmache, nicht auf irgendwelche Beigaben, langatmige Sequenzen, die
das Stück ausdehnen usw.
Genau dies geschieht in dem Film.
Hitchcock konzentriert die Handlung räumlich (ein Raum), er konzentriert
sich auf das Wesentliche (also etwa: welche Überlegungen sind notwendig,
um einen perfekten Mord zu planen und durchzuführen, und was, wenn nicht
alles nach Plan läuft) und: Wie gestalte ich die Szene, in der Lesgate
Margot erwürgen will.
Der Raum, in dem sich die Handlung
abspielt, wirkt wie eine Bühne (wie schon in »Rope«). Hitchcock
unterstrich dies noch dadurch, dass er im Studio einen Fußboden anbringen
ließ, so dass die Schritte der Personen zu hören waren. Alles Wichtige
konzentriert sich auf diese vier Wände. Die Personen sind sozusagen auf
Gedeih und Verderb diesem Raum ausgeliefert: keine wilde Verfolgungsjagd, keine
Flucht, kein Ausweichen. Die Bewegungsmöglichkeiten der Figuren sind durch
den Raum begrenzt, ebenso der Mordplan, seine Einzelheiten, usw. – mit Ausnahme
des Alibis, so scheint es, aber auch das ist durch den Raum bestimmt: Wendice
darf sich nur zum Zeitpunkt des geplanten Mordes nicht dort aufhalten.
Hitchcock äußerte im
Gespräch mit Truffaut, dass er auch einen Film in einer Telefonzelle drehen
würde. »Stellen wir uns doch mal ein Liebespaar in einer Telefonzelle
vor. Ihre Hände berühren sich, ihre Münder treffen aufeinander,
und zufällig schieben ihre Körper den Hörer von der Gabel. Jetzt,
ohne dass das Paar es ahnt, kann das Telefonfräulein ihre intime Unterhaltung
verfolgen. Das Drama ist um einen Schritt weitergekommen. Für das Publikum,
das diese Bilder sieht, ist es wie der erste Abschnitt eines Romans oder als
ob es einer Exposition auf dem Theater lauschte. So lässt eine Szene in
einer Telefonzelle dem Filmregisseur dieselbe Freiheit wie das weiße Blatt
dem Romanautor« (1).
Genau das ist das Konzept von »Bei
Anruf – Mord«. Hitchcock muss jedoch, weil es sich um einen räumlich
beschränkten Film handelt, dafür sorgen, dass das Publikum dem praktisch
endlosen Dialog der wenigen Beteiligten zuhört – wie im Theater. Doch Theater
ist Theater und Film ist Film. Die Mordszene wird daher zum ersten zentralen
visuellen Punkt des Films. (Der zweite ist die Szene, in der Hubbard und Halliday
Wendice stellen.) Hitchcock erzählt im Gespräch zwischen Wendice und
Lesgate dem Publikum in allen Einzelheiten den Plan, so dass nicht nur Lesgate,
sondern der Zuschauer den Plan gedanklich durchspielen kann. Ja, man ist geradezu
gezwungen zu überlegen, ob das gut gehen kann und was Margot für Chancen
hätte, dem Attentat zu entkommen.
Dann kommt der Höhepunkt. Der
potentielle Mörder steht hinter dem Vorhang, Margot betritt den Raum. Das
Telefon klingelt. Lesgate tritt hinter dem Vorhang vor, schleicht sich an Margot
heran und legt ihr das Tuch um den Hals, drückt zu. Margot sucht verzweifelt
nach einem Ausweg, findet die Schere und sticht zu. Entspannung. Schon jetzt
gehen die Gedanken des Zuschauers weiter: Wie wird Wendice reagieren? Was könnte
er jetzt tun? Die Spannung bleibt also erhalten. Wendice muss seinen ursprünglichen
Plan fast vollständig ändern, das heißt Margot in einem völlig
falschen Licht erscheinen lassen usw. Die Überlegungen gehen weiter ...
Ray Milland spielt überzeugend
einen eiskalt kalkulierenden, intelligenten Egozentriker, der bis zum Schluss
versucht, sich aus der Affäre zu ziehen. Grace Kelly ist das genaue Gegenteil:
Emotional, warmherzig, mitfühlend. Auch aus diesem charakterlichen Kontrast
gewinnt der Film einiges an Spannung.
»Dial M for Murder«
ist sicherlich nicht Hitchcocks erfolgreichster Film. Die vorlagengetreue Verfilmung
von Theaterstücken findet nicht den gleichen Anklang beim Publikum wie
Streifen, die sich – so würde ich es formulieren – räumlich nicht
beschränken. Trotzdem gelang Hitchcock durch die Art und Weise der Führung
der Schauspieler, die exzellente Verbindung von vorlagengetreuen Dialogen und
visuellen Mitteln ein bis zum Schluss spannender Film.
Ulrich Behrens
(1) François
Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München
/ Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 178.
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei CIAO.de
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Bei
Anruf – Mord
[Dial
M for Murder] USA 1954
Laufzeit:
105 Min.
Drehbuch:
Frederick Knott, nach seinem Theaterstück
Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Ray Milland, Grace Kelly, Robert Cummings, John Williams,
Anthony Dawson, Leo Britt, Patrick Allen, George Leigh, George Alderson, Robin
Hughes
zur startseite
zum archiv