Beijing Bicycle
Schreien, nur noch Schreien, das sich zu einer
einzigen lauten Klage formt. Verzweifelt klammert sich
der Junge an sein Fahrrad. Zuvor hatte man ihn noch
gesehen, wie er lachend und gutgelaunt über eine der
größten Brücken Pekings fuhr: Sonnenschein, Glück.
Bilder wie diese wird man nicht vergessen, auch wenn
Wang Xiaoshuais Film BEIJING BYCYCLE schon lange vorbei
ist.
Am Anfang erzählt er die Geschichte von Guei (Cui
Lin). Der ist einer jener zahllosen Jungen vom Land,
die ungelernt in die chaotische Metropole Peking
kommen, um dort ihr Glück zu machen. Als Fahrradkurier
findet er einen Job. Wang Xiaoshuais Kamera versucht,
das Allgemeine in diesem Einzelschicksal zu zeigen,
nimmt sich viel Zeit für den Beginn: Wie beim Militär
werden den jungen Männern die Haare geschnitten, steckt
man sie in Uniformen, schaltet sie äußerlich gleich.
Doch die Disziplinierung geht mit Anerkennung einher.
Guei erhält ein Fahrrad, das muss er abbezahlen, danach
kann er zur Hälfte auf eigene Rechnung arbeiten.
Träume, aus eigener Kraft sein Glück zu machen, noch
einmal der optimistische Geist des New
Economy-Liberalismus und ein Mensch, der sich gern zu
dessen austauschbarem Material machen lässt, weil
gerade dies seine individuelle Chance bedeutet.
Für einen Augenblick teilt der Zuschauer die
Hoffnungen dieses Schüchternen, fast Sprachlosen, der
auch nach Wochen, als er sich längst auskennt, mit
seinem staunend aufgerissenem Blick der Szenerie ganz
ausgesetzt ist, große Augen hat für einfach alles - am
meisten für eine geheimnisvolle junge Frau, die er
immer am gleichen Fenster beobachtet, wie sie immer
neue schöne Kleider ausprobiert.
Doch bald versteht man, dass Guei gar nicht das Thema
ist. Es ist die Stadt selbst, ihre Luft, ihr Staub, das
flüchtige Chaos der Begegnungen. Wang Xiaoshuais Film
ist Auftakt eines Projekts, das Peggy Chiao, eine der
besten Filmkritikerinnen Taiwans, initiiert und selbst
produziert hat: Sechs Filme von sechs verschiedenen
Regisseuren sollen in den drei Metropolen der drei
chinesischen Nationen - Peking, Taipeh, Hongkong -
spielen, und so die politisch-soziale Entwicklung
Chinas aus den persönlichen Blickwinkeln ihrer Macher
widerspiegeln, Unterschiede und Gemeinsamkeiten
herausarbeiten: Neben BEIJING BYCYCLE stammt auch
BETELNUT BEAUTY von Li Cheng-Feng aus dieser Reihe, der
noch besser gelungen ist, und hoffentlich auch bald ins
deutsche Kino kommt - beide Filme erhielten bei der
letztjährigen Berlinale wichtige Preise.
In dem der Regisseur in BEIJING BYCYCLE das Thema von
Vittorio de Sicas Neorealismus-Klassiker FAHRRADDIEBE
wieder aufgreift, und in spartanischen Dialogen von
einem erzählt, dessen ganzes Glück an einem Fahrrad
hängt, und davon, wie genau dieses Fahrrad irgendwann
weg ist, portraitiert er Chinas Hauptstadt Peking,
erzählt von Klassenverhältnissen und individuellen
Träumen, und von der unterschiedlichen Bedeutung, die
ein Fahrrad haben kann.
Denn die obligatorische Suche rückt schnell aus dem
Zentrum, der Film folgt nicht Guei, sondern seinem Rad.
Das landet bei Jian (Li Bin), einem Schüler, der ein
bisschen schnöselig, aber eigentlich auch nur ein armes
Schwein ist. Er hat es auf einem Flohmarkt gekauft, mit
Geld, dass er seinem Vater stahl. Auch für Jian ist das
Rad ein großes Vermögen: Mittel, um ein junges Mädchen
zu erobern. Und durch den neuen Besitz öffnen sich neue
Perspektiven, scheint sich sein ganzes Leben zu ändern.
Mit dem Fahrrad greift der Film die Ikone für die
Modernisierung des kleinen Mannes, nicht nur in China,
auf. Zugleich sind Fahrrad, Nähmaschine und Radio auch
in der Volksrepublik längst nicht mehr alles, richtet
sich der Blick auf die Güter der weltweiten Popkultur.
Man sieht das an Jians Mitschülern, die sich ganz
modischem Punk- oder HipHop-Stil hingeben. Allerorten
geht es in BEIJING BYCYCLE um solche Statussymbole, um
Ökonomie überhaupt, auch die der Liebesbeziehungen, sowie um ein China
inmitten von Hyperkapitalismus und Verwestlichung. Und
mit seinen beiden Helden präsentiert der Film zwei
energische Kämpfer, die auf ihre Art in feindlicher
Umwelt zu überleben suchen, die beide ein bisschen
Outsider sind, weil sie moralisch konsequenter,
gradliniger sind, als die meisten um sie herum.
Es dauert nicht lange, da finden sich Landmensch und
Großstadtkind, hin und her wechselt das Fahrrad seinen
Besitzer, bis die beiden lange nach dem Zuschauer die
Ähnlichkeit ihrer Lage erkennen. Der Kompromiß, der zwischen den beiden Welten
ausgehandelt wird, scheitert, fast zwangsläufig, an den
Verhältnissen. Eine schöne Metapher gelingt dem Film
da, fast zu schön, um wahr zu sein - so wie die
prächtigen, elegischen Weitwinkelbilder, mit denen Wang
Xiaoshuai es seinen westlichen Zuschauern arg leicht
macht, die Distanz zu wahren.
Manche inhaltliche Konzessionen waren, so darf man
vermuten, aus Zensurgründen nötig. Doch am Schluß wird
es der harmonisierenden Sicht auf die Dinge schon arg
viel: Die mit westlicher Popkultur konnotierte
Jugendgang wird zum Bösewicht. Da weiß man dann, dass
sich Verbrechen und Amerikanismus nicht auszahlen, und
was man zu tun hat, um ein braver, linientreuer Chinese
zu sein.
Was man nicht vergißt, ist hingegen anderes: Das
Schreien, die beiden Jungen, die jeder auf seine Art um
ihr Leben radeln, und die junge Frau am Fenster. Auch
ihr Geheimnis, erfährt man, hatte etwas Trügerisches:
Die teuren Kleider, die sie anprobierte, gehörten einer
anderen, die Schöne, in der man schon ein Sinnbild des
modernen China vermutete, war nur das Dienstmädchen.
Rüdiger Suchsland
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:
Beijing Bicycle (Shiqi sui de dan che)
China/Taiwan 2001 - 113 Minuten
Regie: Xiaoshuai Wang
Kamera: Jie Liu
Drehbuch: Peggy Chiao, Hsiao-ming Hsu, Danian Tang
Besetzung: Lin Cui, Xun Zhou, Yuanyuan Gao, Bin Li u.a.