Berlin
- Sinfonie einer Großstadt
Die
Idee einer Neuauflage von Walter Ruttmanns Klassiker
scheint so offen auf der Straße zu liegen, daß man sich fast wundern
möchte, wenn es erst jetzt geschieht. Hat doch der Berlin-Hype seinen Höhepunkt
schon ein wenig überschritten, und bei der Nennung des Namens kommen einem
am ehesten gigantische Finanzlöcher in den Sinn.
Thomas
Schadt kamen anscheinend noch andere Dinge in den Sinn, als die Idee ihm nicht
etwa von selbst durch den Kopf ging, sondern, wie er im Presseheft ganz unbekümmert
verrät, im Frühjahr 2000 in der Kneipe von einem Kritiker eingeflüstert
wurde. Natürlich ist der Gedanke so einfach wie schlagend, das neue Berlin
einmal mit den Mitteln des alten anzusehen. Er ist eigentlich ein klassisches
Beispiel für die naheliegende gute Idee, die man aber erstmal haben muß.
Walter
Ruttmann kam seinerzeit aus einer Kunstrichtung, die heute kaum mehr existiert.
Er träumte vom absoluten Film, der analog zur abstrakten Kunst keiner Wirklichkeitsdarstellung
mehr verpflichtet sei und sich von der Verwendung der Mittel anderer darstellender
Künste emanzipieren sollte. Für Ruttmann war "Berlin - Sinfonie
einer Großstadt" also ein Schritt weg von der Abstraktion, hin zur
Wirklichkeitsdarstellung. Für den Dokumentarfilmer Thomas Schadt hingegen
führte der Schritt in die entgegengesetzte Richtung.
Herausgekommen
ist zunächst einmal ein recht beeindruckendes Werk. Allein der Anfang ist
grandios: Suchscheinwerfer tasten sich durch den Himmel, Silvesterraketen explodieren
über dem Gendarmenmarkt, dann tastet die Kamera sich, wie einst bei Ruttmann,
in einer langen Sequenz durch die menschenleere Stadt am frühen Morgen.
Die Musik, eingespielt vom Sinfonieorchester des SWR, klingt hier noch frisch
und in jedem Takt aufregend. Menschen erwachen, Produktionsanlagen laufen an,
mit jedem Schnitt steigert sich die Spannung bis hin zur grandiosen Totalen
einer riesigen Halle, in der an schlangengleich gewundenen Förderbändern
frisch gedruckte Zeitungen kreuz und quer, hinauf und hinab durch den Raum laufen.
Man fühlt sich an die Visionen eines Terry Gilliam erinnert, die Musik
steigert sich weiter, man fragt sich, was denn jetzt wohl noch kommen mag -
und sieht als nächstes zwei halbfertige Waschmaschinen, die auf Förderbändern
aneinander vorbeifahren. Die Musik bricht ab. Enttäuschung auf der ganzen
Linie.
Hier
zeigt sich das Problem, das sich durch den ganzen Film zieht. Er fühlt
sich den Formen verpflichtet, die schon Ruttmann verwendet hat, und kann dabei
nicht wirklich etwas mit ihnen anfangen. Ruttmanns Film von 1927 beispielsweise
ist in Schwarzweiß gedreht. Warum? Weil Kino eben damals schwarzweiß
war. Thomas Schadts neuer Film ist ebenfalls schwarzweiß. Warum? Weil
Kino damals schwarzweiß war? Hier wäre es vielleicht besser gewesen,
sich bewußt gegen die Formen des Überkommenen abzugrenzen und jede
Entscheidung neu und für unsere Zeit zu treffen, in der beispielsweise
das Schwarzweißmaterial einen gänzlich anderen Kontext mit sich herumträgt
als damals.
Ähnlich
verhält es sich mit der Musik. Was damals auf der Höhe der Zeit war,
klingt im neuen Film nicht unbedingt anders, ist aber eben keine Avantgarde
mehr. Die Kompositionen von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring sind den
Idealen der "Neuen Musik", der zeitgenössischen Klassik verpflichtet,
die aber in den letzten Jahrzehnten gegen die stetig komplexer werdende Popularmusik
immer mehr an Bedeutung verloren hat und auch dem gebildeten Zeitgenossen kaum
mehr etwas zu sagen vermag. Samples und E-Gitarren, die gelegentlich mitmachen
dürfen, bleiben störende Fremdkörper. Die Musik, die anfangs
noch spannend schien, verkommt im Lauf des Films immer mehr zur abstrakten,
leicht nervigen Klangtapete. Berlin klingt heute anders.
Ein
weiteres Beispiel sind die Industrieanlagen, Rotationsmaschinen, Fließbandbäckereien,
Zigarettenfabriken, denen Schadt sich ausführlich widmet. Einmal davon
abgesehen, daß Bilder von laufenden Produktionsmaschinen heute in jeder
Hinsicht etwas ganz anderes bedeuten als damals, bleibt die Tatsache, daß
Berlin vor 75 Jahren die Industriestadt war, die es heute nicht mehr ist. Die
großen Werke stehen längst ganz woanders. Die Differenzqualität
ist weg, Industrie ist kein Element mehr, das die Großstadt Berlin vom
Rest des Landes unterscheidet. Man hätte ebensogut die Maschinenaufnahmen
aus dem alten Film in den neuen einschneiden können - der Effekt wäre
nicht grundlegend anders gewesen. Immer wieder hat man das Gefühl, daß
Ruttmanns Original als Legitimation für Bilder dienen muß, die eigentlich
hier nichts zu suchen hätten. Wo Ruttmanns Film zu den Menschen seiner
Zeit sprach, da bekommt Schadts Neuinterpretation durch all diese Grundsatzentscheidungen
einen seltsam rückwärtsgewandten und damit lebensfernen Grundton.
Wobei
es genügend Momente gibt, in denen der Film an Leben gewinnt. Es sind immer
die Stellen, an denen Menschen im Mittelpunkt stehen. Hier meint man zu spüren,
wie Schadt sich wohl fühlt, wie er das Erbe des Klassikers abschüttelt
und auf eigenen Beinen steht. Hier findet er immer wieder erhellende Bilder,
die mehr aussagen als das bloß Sichtbare, und es gibt genügend davon,
um den Film als Ganzes sehenswert zu machen. Doch sobald es wieder mechanisch
wird, Maschinen laufen, Räder sich bewegen, da sieht es wie eine Pflichtübung
aus, die man eben macht, weil Ruttmann es auch gemacht hat. Der eingangs erwähnte
Schritt vom Dokumentarischen hin zum Abstrakten, musikalisch Geordneten, er
ist Schadt nicht wirklich gelungen. Menschen kann er, doch eine Sinfonie in
Bildern gelingt ihm nur an einigen Stellen. Zumeist fehlt die schöpferische
Dichte des Originals.
Wollte
man heute einen Film namens "Berlin - Sinfonie einer Großstadt"
machen, ohne sich dabei um einen Schwarzweißfilm aus dem vorigen Jahrhundert
zu scheren, so sähe das Resultat sicher ganz anders aus als der Film, der
jetzt diesen Titel trägt. Das ist sein Problem: Er ist als Remake zu sehr
dem Original verhaftet. Fatal für einen im Kern immer noch dokumentarischen
Film, bei dem sich in 75 Jahren nicht nur die Bilder, sondern auch die Inhalte
und die Rezeptionserfahrungen des Publikums geändert haben.
Dietrich
Brüggemann
Dieser
Text ist zuerst erschienen im:
Berlin
- Sinfonie einer Großstadt
D
2002. R, B, K: Thomas Schadt. S: Thomas Wellman, Stefan Krumbiegel. M. Iris
ter Schiphorst, Helmut Oehring. P: teamWorx, Odyssee-Film. 80 Min. ottfilm ab
11.4.02