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Blinder
Schacht
So könnte eine Dokumentation über chinesische
Grubenarbeiter beginnen: Die Männer der Frühschicht stapfen durch
eine trostlose Felsenlandschaft in Richtung Förderturm. Drei Arbeiter teilen
sich noch eine letzte Zigarette, dann geht es abwärts. Der Winterhimmel
verengt sich zum weißen Rechteck, schrumpft zum engen Schlitz, dann schluckt
ihn die Nacht. Unten im Schwarz irrlichtern nur die Grubenlampen, während
die Männer beginnen, dem Felsen die Steinkohle zu entreißen.
Unvermittelt wird ein Mann mit der Spitzhacke erschlagen,
kurz darauf stürzt ein Stollen ein. Hand angelegt haben die Kumpels Song
Jimming und Tang Zhaoyang, die ein verschlagenes Mörderpaar bilden. Mit
böser Raffinesse bessern die zwei ihren kargen Lohn auf, indem sie arglose
Wanderarbeiter als „Familienmitglieder“ rekrutieren, „verunglücken“ lassen
und die Minenbesitzer mit Geldforderungen unter Druck setzen. Eine leichte Übung,
denn die Bergwerke halten die Sicherheitsvorschriften nicht ein. Das ist nicht
bloß Fiktion: Etwa 28.000 Kohlegruben gibt es in China, viele von ihnen
werden am Rand der Legalität betrieben. Aufgrund mangelhafter Standards
und unzureichender Ausbildung der Bergleute sind die Bedingungen tatsächlich
mörderisch. Jährlich sterben mindestens 3.300 Kumpels, wenn man den
chinesischen Behörden Glauben schenkt. Inoffiziell wird die Zahl der Verunglückten
auf etwa 7.000 geschätzt. Ist „Blinder Schacht“ also eine Studie über
die katastrophalen Lebensbedingungen in den Bergwerken oder ein Kriminalfilm?
Er ist beides: Quasi-Reportage von ganz unten und packender film
noir zugleich.
Im Norden Chinas „fehlt es an allem, bis auf Menschen“,
bemerkt ein Grubenbesitzer. Mit kaltem Zynismus wägt er ab, ob er den beiden
Arbeitern nach dem Tod ihres „Bruders“ ein Schweigegeld auszahlt oder sie umbringen
lässt. Ergebnis: die Killer kämen teurer. Kein Wunder, dass in diesem
verheerend herzlosen Klima kaum persönliche Bindungen gedeihen; hinter
Freundschaftsfloskeln lauern Missgunst und Gier. Mit teilweise versteckter Kamera
drehte Yang auch in den Provinzstädten des Nordens, filmte dort ein anonymes
Treiben, in das er seine Figuren eintauchen lässt – wenn sie Geld für
ihre Familien zur Post bringen und billiges Amüsement in Bordellen suchen.
Am Bahnhof wird ein neuer Klient ausfindig gemacht. Der Ältere, Tang –
von Wang Shuangbao mit grandioser Verschlagenheit gespielt – stößt
auf Yuan (Wang Baoqiang). Yuan ist erst 16 und sucht Arbeit, um sich das Geld
für die weiterführende Schule zu verdienen. Der zweite Gauner Song
- Li Yixiang stattet ihn mit Ruppigkeit und Nachdenklichkeit aus – stimmt dem
neuen Mordplan allerdings nur zögernd zu: Yuan könnte sein Sohn sein.
Der Rückweg ans Licht, in ein besseres Leben, ist dem Jungen noch nicht
versperrt. Doch im Disput hat Tang das Totschlagargument auf seiner Seite: „Wenn
du ihn nicht tötest, werden deine Kinder sein wie er und schuften müssen.“
Wie ein Lamm folgt Yuan den „Onkels“ zu einer neuen Mine.
Fast beiläufig sammelt die Kamera treffende
Sinnbilder für die Lebenslage der Protagonisten auf: Eine Schafherde wird
einen Abhang heruntergetrieben – wie Vieh werden auch die Arbeiter in den Schacht
herabgelassen. Das Verlassen der Grube filmt Liu Yonghongs Handkamera wie eine
Schmerzgeburt. Nacheinander tauchen die verzerrten Gesichter von Song, Tang
und Yuan ins Tageslicht auf: Ende der Schicht. Noch einmal davongekommen. Das
Mordkomplott zieht sich, doch virtuos hält Li Yang die Spannung. In der
zweiten Hälfte des Films fädelt er einen helleren Strang ins düstere
Erzählgeflecht. Ihr Protagonist ist Yuan. Seine Geschichte ist die vom
Erwachsenwerden. Da will einer lernen und wachsen, statt in die Grube zu gehen.
Neben seinem Feldbett, hinter der Tapete aus Zeitungspapier, versteckt Yuan
das Bild eines Pin-Up-Girls. Song spürt die pubertären Wallungen des
Jungen. Er hat Mitleid und setzt auf Verzögerungstaktik: Yuan müsse
erst ein Mann werden, bevor man ihn töten darf. Das erscheint selbst Tang
logisch, und so wird das Treffen mit einer Prostituierten arrangiert. Wirkte
Wang Baoqiang in früheren Szenen etwas verdruckst, gewinnt sein Spiel als
Yuan nun an Profil und beeindruckt als Darstellung pubertärer Nöte.
Zunächst nur als Trauma erlebt, zeitigt der Initiationsritus im Bordell
dann doch positiven Effekt: Yuan wirkt in Folge wie gelöst, lacht sogar.
Dann geht es zum letzten Mal in den Schacht.
Ob das (deutsche) Sprichwort von der Grube, die man
anderen gräbt, auch zum Motto dieses Films taugt, soll nicht verraten werden.
Nur soviel: am Ende ist eine Leiche zu sehen, sie wird in einen Ofen geschoben.
Dann schwenkt die Kamera auf einen Schornstein. Die Rauchzeichen des Krematoriums
haben das letzte Wort. Eine Metapher, die Li Yangs Botschaft auf eine geradezu
provozierende Formel verknappt: Was ist der Mensch in dieser Wüste? Energielieferant?
Kanonenfutter? Vielleicht hat gerade diese kühne Schlusssequenz zum Verbot
von „Blinder Schacht“ in China geführt. In Deutschland, wo der Film co-produziert
wurde, hat er 2003 bei den Berliner Filmfestspielen einen „Silbernen Bären“
gewonnen. Spät, aber nicht zu spät, kommt er nun in unsere Kinos.
Jens Hinrichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Film-Dienst (24/2005)
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Blinder Schacht
Hongkong / China / Deutschland 2002 - Originaltitel: Mang Jing
/ Blind Shaft - Regie: Li Yang - Darsteller: Li Yixiang, Wang Shuangbao, Wang
Baoqiang, An Jing, Bao Zhenjiang, Sun Wei, Wang Yining, Zhao Junzhi, Liu Zhenqi,
Zhang Lulu - Länge: 92 min. - Start: 10.11.2005
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