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Blue Velvet
„So ein abgeschnittenes Ohr kann - wie Sie wissen
- mitunter wahre Abgründe auftun. Nun, "Blue Velvet" war vielleicht
Mitte der 80er-Jahre schockierend. Gemessen an dem, was uns heutzutage in Talkshows
serviert wird - Inzest, Pädophilie, Selbstverstümmelung, also fast
jede Form menschlicher Abartigkeit - wirkt der Film doch recht harmlos“ – David Lynch im Interview, nach dem Jahrtausendwechsel
Die
Welt von Lumberton ist heil, so heil, dass in ihr notwendig das blanke Böse
enthalten sein muss. Wir stecken in der Zange des in Zeitlupe lachenden Feuerwehrmannes,
der den Film zusammenhält. Er winkt langsam, als wolle er sagen: Entspann
dich, mein Kind, es kann dir nichts geschehen. Nette alte Damen geleiten uns
über die Straße zur Schule, der Himmel ist blau, die Rosen vorm weißen
Zaun, der unser Haus umgibt, blühen überreal rot, Holztransporte rollen
schwer auf unseren heimatlichen Straßen. Der Fernseher zeigt Krimi, der
Rasen wird gesprengt, und wenn der Schlauch sich um den Strauch wickelt, dann
bremst das nicht nur das Wasser, sondern blockiert auch Vatis Blutgefäße
im Hirn. Ein Schlaganfall, oder so, jedenfalls ein Grund für Student Jeffrey
Beaumont, als Stellvertreter des Vaters zurück in seine Kindheit zu gucken,
und darüber hinaus, jenseits der Lincoln Street, da, wo nur die großen
Jungs hin kommen und böse große Jungssachen machen.
Geahnt
hatten wir schon von kleinauf, dass jener verkrampften Beschwörung der
guten, heilen Welt eine mindestens ebenso muskulöse Antithese der bösen,
kaputten Welt entgegenwirkt. Aber David Lynch war einer der ersten, die uns
sogar das Enthaltensein der einen in der anderen gezeigt haben. In jeder Faser
der Fernsehfamilienidylle der Beaumonts (schöne Welt) steckt schon das
Unheilvolle, vom Traum zum Alb mutierende, so als lebe in der frommen Lüge
die gottlose Wahrheit. Lynch zeigt das nicht plakativ, wie z.B. ein Waters das
täte, er gibt sich nur bis zur Naivität aufgeschlossen den unheilvoll
harmlosen Kleinstadt-Bildern Lumbertons und seiner Bewohner hin, und kommt ihnen
und ihren amerikanischen Codes dadurch näher als ein a priori Skeptiker
das täte.
Jeffrey
findet auf einer Wiese ein abgeschnittenes Ohr. Ordnungsgemäß bringt
er es zur Polizei. Das Ohr ist Symbol der Lynch-Welt, denn kaum ein Regisseur
setzt Sounds so bewußt ein wie er. Oft sind es banale Bilder untermalende,
dräuend grummelnde Bässe, die uns verunsichern. Lynchs Geräuschtapeten
sind seinen Bildern gleichberechtigt und meistens ebenso aufwändig (in
„Blue Velvet“ von Alan Splet und ihm) hergestellt und durchkomponiert worden.
In das mit einer Schere abgetrennte Ohr eines Fremden wird der Kamerablick gezogen,
dessen Inneres ist plötzlich eine düstere Höhlenlandschaft, und
der Sound schwillt an, - Jeffrey ist von seinem Fund erschreckt und fasziniert,
das morbide Geheimnis weckt seine Neugier.
Zusammen
mit Sandy (Laura Dern), der Tochter des Inspektors, spielt er Detektiv. Er ermittelt
aus einem Versteck heraus, wird dadurch zum Voyeur - und wir mit ihm. Jeffrey
ist rein und unschuldig verliebt in die ebensolche Sandy, schmutzig und verdorben
in Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) und beides gleichzeitig. Klare freudsche
Muster: Die Helle, Reine, Unschuldige ist die Blondine. Die Kranke, Gedemütigte,
Erotisierende ist die Schwarzhaarige. In „Blue Velvet“ ist Sex stets verknüpft
mit Macht, Unterdrückung, Gewalt, Perversion und Psychose. Liebe dagegen
schliesst die Libido scheinbar aus. Wir sehen zwar, dass Sandy und Jeffrey sich
küssen, aber dieser Kuss ist eher die Besiegelung zärtlicher Verbundenheit
als der Beginn eines Vorspiels. Dorothys Kuss dagegen und ihre sadomasochistischen
Wünsche wecken in Jeffrey abgründige sexuelle Begierden.
Der
expressivste Charakter und das Konzentrat dieser Abgründigkeiten ist zweifelsohne
Dennis Hopper als Frank Booth (Abraham Lincolns Mörder trug übrigens
denselben Namen). Als Hopper das Drehbuch für „Blue Velvet“ gelesen hatte,
rief er Lynch an und erklärte, er müsse den Frank Booth spielen, weil
er Frank Booth sei. Lynch: „Ich saß in der Klemme, denn ich hatte nicht
die geringste Lust mit jemandem wie Frank Bekanntschaft zu machen. [Lacht]“
(aus „Lynch über Lynch“)
Vermutlich
ist Frank Booth tatsächlich für Hopper die Rolle seines Lebens. Selten
sah man ihn so auf dem Punkt, wie hier als der komplex psychotische, von merkwürdigen
Drogen abhängige (er inhaliert z.B. immer wieder ein Gas, das er in einer
Flasche mit sich führt) Booth. Antrieb für alle seine Taten scheint
seine Impotenz zu sein. Um sich Dorothy gefügig zu machen, entführte
er ihren Sohn und Ehemann, und schnitt Letzterem das Ohr ab. Nur die Anwendung
einer Mixtur aus Drogen, Gewalt, daraus resultierender Macht, Sadomasochismus und Fetischismus
(blaue Samtfetzen, die er sich und seinen Opfern in den Mund steckt) scheint
ihm einen Rest von Befriedigung verschaffen zu können. Als Anführer
eines kriminellen Freundeskreises ist jedes zweite seiner Worte: „fuck“, aber
sicher fühlt er sich nur im Verborgenen, Dunklen, wo keiner merkt, dass
er gerade das nicht mehr kann. Unfähig zu Gefühlen, Kommunikation
und Beischlaf kommt sein „Liebesbrief“ aus seiner „Kanone“: ein männlicher
Konflikt mit einer männlichen Lösung...
Isabella
Rossellini spielt sein Opfer mit einer Offenheit, die zum Äußersten
geht. Sie - damals als Top-Fotomodell unter Vertrag - zeigt ihren Körper
als verletzlich, versehrt, deformiert. Manchmal wirkt ihre (mißbrauchte)
Nacktheit nahezu krankhaft aufgedunsen und morbide. Das Darstellen des Hässlichen
(einer eigentlich schönen Frau), gepaart mit innerer Verzweiflung, geht
weit über das übliche Kino-Frauenbild hinaus. Es wirkt wie ein Sinnbild
der Frau als Unterdrückte und Sexualobjekt. Wenn Rossellini später
geschunden, geschändet und nackt in Jeffreys Vorgarten steht, ist das ein
Bild von Ausbeutung und Deprivation, das seinesgleichen sucht. Auch wenn Lynch
sich massiv gegen eine solche Verallgemeinerung wehren würde: Natürlich
herrscht Frank mit Gewalt über Dorothy, um ihren Körper benutzen zu
können. Natürlich hatten und haben Männer mehr Macht, weil sie
sich nicht genieren, Gewalt anzuwenden.
Auch
Dean Stockwell, notorischer Nebendarsteller etlicher Filme seit 1944 (!), hat
in „Blue Velvet“ vermutlich den Höhepunkt seiner Karriere erlebt. In seiner
Rolle als tuntiger Bordellbesitzer Ben hat er seinen Glanzauftritt, indem er
zu Roy Orbisons „In Dreams“ pantomimisch die Lippen bewegt, sein Gesicht beleuchtet
von einer wie ein Mikrophon benutzten Arbeitslampe. Jeffreys unfreiwilliger
Besuch bei Ben ist wie der Aufenthalt in einer Vorhölle. Jeffrey spürt
in diesem Ambiente die konsequente Verwirklichung jener „dunklen Seite“. „Es
ist eine fremde, seltsame Welt.“-„It’s a strange world“ fasst Jeffrey mehrfach
seine Erlebnisse in Worte, weil das Dunkle, Gedeckelte, Gewalttätige mit
Macht sich nicht nur seinem voyeuristischen Blick entdeckt, sondern eine Spur
dessen sich ihm selber, als ureigener Trieb entpuppt. Vielleicht ist es der
Sexual-Trieb an sich, den sich der adoleszente Mann zu entdecken hat, aber es
ist auch die Dichotomie zweier Prinzipien, die ihn und uns bannt: Die reine,
naive und auch verlogene, neurotische, lustfeindliche bürgerliche Ordnung
steht gegen die unverhohlen brutale, exzessive, kriminelle, schliesslich psychotische
(Un)ordnung proletarischer Couleur.
Wir
sehen gepflegt-geordnetes amerikanisches Bürgerleben in der aufregendsten
Skizzierung, wir sehen die definitive Artikulation der Impotenz (Hopper, seine beste Rolle), wir sehen wirklich verlorene
Wesen (Rossellini, ihre beste Rolle), wir sehen den Entwicklungsroman (MacLachlan,
seine beste Rolle). Aber wenn uns beim Happy-End wieder der Feuerwehrhauptmann
zuwinkt, haben wir Heranwachsenden endgültig gelernt: Diese seltsame Welt
da draußen jenseits der Lincoln Street ist gar nicht wirklich erforscht
und besiegt, denn sie ist noch undurchdringlicher, mächtiger und verschlingender
geworden, und ihre Flammen züngeln in unsere Fernsehserienfamilienwelt
hinüber - seit wir auf sie einen genüsslich masochistischen Blick
werfen durften, und wir wissen, dass sie auch in uns selber existiert.
Ich
glaube, David Lynch ist kein Träumer, sondern einer der wenigen Realisten
des amerikanischen Kinos, mit einem scharfen und mutigen Blick für die
innere Logik individueller aber auch sozialer Psyche. „Psychic Reality“ hat
das mal jemand genannt. Aber das besonders Nette an Lynch ist, dass er uns neben
dem Schauder auch den Spaß an dieser unserer unheilen psychischen Realität
vermittelt.
„Blue
Velvet“ ist einer der wenigen Filme Lynchs, in denen das Surreale zwar angedeutet
aber noch weitestgehend von einer in sich schlüssigen Handlung losgelöst
existiert. In seinen späteren Filmen: „Wild At Heart “ (1990), “Twin Peaks – Fire Walk With Me”(1992),
“Lost Highway”(1996) und “Mulholland Drive”(2001) sind surreale und reale Elemente gleichberechtigte,
miteinander untrennbar verwobene Handlungsbestandteile, wie auch zuvor schon
in „Eraserhead“(1976). „Der Elefantenmensch“(1980) arbeitet, wie auch der Science Fiction–Film „Dune (Der Wüstenplanet)“ (1984) mit ausdrucksstarken Traumsequenzen, ohne sie
als real zu apostrophieren, und einzig „The Straight Story“ (1999) scheint ohne Irrationales auszukommen - wäre
da nicht die Szene mit der Autofahrerin, die, um die Rehe zu verscheuchen, auf
Landstraßen so laut sie kann „Public Enemy“ aufdreht, und dennoch jedes
Mal eines totfährt. Aber das gehört woanders hin...
Andreas Thomas
Dieser Text
ist zuerst erschienen in der filmzentrale
Blue Velvet / BLUE VELVET
USA - 1985 - 120 (V.115/114) min. - Scope
FSK: ab 18; feiertagsfrei (gek. 16) Prädikat: wertvoll
Verleih: Concorde; VCL/Virgin (Video); Erstaufführung:
12.2.1987/31.8.1987 Video
Fd-Nummer: 26040; Produktionsfirma: De Laurentiis Entertainment
Group; Produktion: Fred Caruso
Regie: David Lynch / Buch:
David Lynch; Kamera: Frederick Elmes, Joe Dunton (Widescreen-Kamera); Musik:
Angelo Badalamenti; Schnitt: Duwayne Dunham
Darsteller: Kyle MacLachlan (Jeffrey Beaumont); Isabella
Rossellini (Dorothy Vallens); Dennis Hopper (Frank Booth); Laura Dern (Sandy
Williams); Dean Stockwell (Ben); Hope Lange (Williams); George Dickerson (Detective
Williams)
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