Boys don’t cry
Brandon Teena wurde 1993 in Falls City, Nebraska ermordet, weil sein
Körper nicht seinem Äußeren, geschweige denn seinem Begehren entsprach.
Die Fakten des Falles sind erschreckend klar: John Lotter und Thomas
Nissen, zwei ehemalige Freunde, vergewaltigten Teena, nachdem ihnen
aufgegangen war, daß ihr Freund den Körper einer Frau unter seinem
jungenhaften Äußeren verbarg, und erschossen ihn zusammen mit zwei
weiteren Anwesenden am Heiligen Abend, nachdem Brandon Strafanzeige
erstattet hatte.
Aufgewachsen in Lincoln, Nebraska (wie übrigens auch Hauptdarstellerin
Hilary Swank) fühlt sich Teena Marie Brandon nie als Mädchen. Im
benachbarten Kaff Falls City versucht sie einen Neubeginn als junger Mann
und erlangt schnell Popularität, vor allem beim weiblichen Geschlecht.
Als Lana Tisdel seinen Avancen nachgibt, glaubt Brandon Teena, sein Glück
gefunden zu haben. Er wird unvorsichtig, übersieht die
"Beschützer"-Rolle, die Lanas langjähriger Freund John Lotter für sich
beansprucht und stirbt, gerade 21-jährig, eines gewaltsamen Todes.
Damit qualifiziert sich zumindest dieser kurze Lebensabschnitt, den
"Boys Don't Cry" nachvollzieht, für den amerikanischen Liberty-Mythos.
Brandon nimmt sich die Freiheit, seine Identität selbst zu bestimmen und
ganz neu anzufangen. Dabei mischt er als geheimnisvoller Fremder eine öde
Kleinstadt auf. Doch die Tage des einzelgängerischen Siedlers sind lang
vorbei, der Mittlere Westen leidet heute unter neurotisch-rigiden
Moralvorstellungen und wird in Literatur und Film zur gern genommenen
Kulisse um so schrecklicherer Verbrechen.
Nur zu verständlich, dass sich seit 1993 eine Flut von Reportagen,
Filmen, Büchern, Artikeln dieses furchtbar faszinierenden Falles
angenommen haben: von der ersten Reportage im New Yorker Dyke-TV, über
die keineswegs objektive Auslegung der True-Crime-Autorin Aphrodite Jones
("All She Wanted") zur preisgekrönten Dokumentation "The Brandon Teena
Story" wurde Brandon Teena (oder Teena Brandon) zum Protagonisten eines
modernen Heldenliedes wahlweise als Lesbe, als Transsexueller, als
Märtyrer oder dreister Jungkrimineller.
Kimberly Peirces Dreh- und Angelpunkt ist eine traumhafte
Liebesgeschichte. Sie verläßt sich auf die Dramatik der Ereignisse,
erzählt relativ chronologisch und setzt lediglich Akzente. Gewichtet hat
sie etwa, indem sie etwa den behinderten, schwarzen Freund Philip DeVine,
der zusammen mit Brandon und einer Freundin erschossen wurde, sowie
Mörder John Lotters Nähe zu einer Gruppe wegließ, welche "die
Überlegenheit der weißen Rasse" vertritt. Damit mag sie, wie die Soziologin Judith Halberstam bemängelt, den
großen Zusammenhang zwischen Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie
vernachlässigt haben. Nichtsdestotrotz bezeichnet Halberstam den Film als
wichtig und mutig.
Ebenfalls im Sinne der Mainstreamverträglichkeit frei interpretiert hat
Peirce bezüglich Brandons Geliebter (brillant als gelangweilte, toughe,
aber empfindsame Dorfgöre: Chloe Sevigny). Im Spielfilm akzeptiert sie
Brandon als das, was er ist, während die echte Lana Tisdel bis heute
lieber verdrängt, was sich unter Brandons Kleidung verbarg.
Drehort Texas oder Tatort Falls City, Nevada Peirce weiß die
aggressionsgeladene Langweile einer amerikanischen Kleinstadt gut in
Szene zu setzen, zum Beispiel beim nächtlichen "Stoßstangen-Surfen",
einem sinnlosen Autorennen, bei dem Brandon seine Männlichkeit in einem
irgendwie peinlichen Ritual zu beweisen sucht. Hauptdarstellerin Hilary
Swank verließ sich nicht nur auf Stimm-und Muskeltraining, sondern lebte
volle vier Wochen im anderen Geschlecht. Dies macht sich mehr als
bemerkbar in der Feinfühligkeit und Eindringlichkeit ihrer Darstellung.
Brandons anfängliche Unsicherheit, seine angesichts seiner Beliebtheit
wachsende Selbstsicherheit drückt sie in sparsamen Gesten aus, die erst
das Publikum erinnern, daß der sanfte Junge von einer Frau gespielt wird.
Kimberley Peirce wagte sich mit ihrem Spielfilm-Debüt auf gefährliches
Terrain. Das Drehbuch orientiert sich an einer Begebenheit, die
mittlerweile zum Synonym geworden ist für die Angst und Wut, die jemand
auszulösen vermag, indem er sich der gängigen Geschlechterordnung
verweigert ein Pulverfass der political correctness. Jede/r hat eine
andere Vorstellung, was dieses Verbrechen bedeutet. Es galt als äußerst
fragwürdig, ob ein solch explosiver Stoff jemals adäquat umgesetzt werden
konnte, und mit jedem Monat Produktionszeit stiegen die Erwartungen. Und
dennoch: ein Verriß von "Boys Don't Cry" stand bis zum Jahresende noch
aus. Bei der Weltpremiere in Cannes gab es Standing Ovations, beim
deutschen schwullesbischen Filmfestival Verzaubert stimmte das Publikum
einhellig für den Rosebud Award "Bester Spielfilm". Jede zweite
Filmkritik fordert für Hilary Swank (Buffy, The Vampire Slayer; Next
Karate Kid) einen Schauspiel-Oskar. Die Boston Society of Film Critics
hat ihr Mitte Dezember bereits den Best Actress Award verliehen.
Sollte "Boys Don't Cry" bei den Academy Awards mit von der Partie sein,
hat das Team um Produzentin Christine Vachon, Regisseurin Peirce und die
herausragenden Darstellerinnen nicht nur eine erstaunliche Leistung
erbracht, sondern gleichzeitig einen der wichtigsten emanzipatorischen
Filme der Jahrhundertwende geschaffen.
Birgit Scheuch
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Boy’s don’t cry
USA 1999
Regie: Kimberley Peirce
Mit Hilary Swank, Chloe Sevigny, Peter Sarsgaard
Kinostart: 3.Februar 2000