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Briefe
eines Toten
Drei
Jahre, nachdem in The
Day After
der nukleare Holocaust als erschreckendes Endzeitspektakel im TV inszeniert
wurde, erscheint 1986 Briefe
eines Toten
- ein sowjetischer Film, unterstützt vom sowjetischen Kommitee gegen den
Atomkrieg aus der Feder von Konstantin Lopushansky, Vyacheslav Rybakov und Boris
Strugatsky (letzterer zusammen mit seinem Bruder Arkadi populärer Science
Fiction-Autor, unter anderem des Romans Picknick
am Wegesrand,
der als Stalker
in
die Kinos kam). Wo The
Day After
versucht, das Undenkbare und - damals - doch so denkbar Nahe in Bilder diverser
Einzelschicksale zu fassen, sind es bei Briefe
eines Toten
die Introspektionen eines Professors, der in der nuklearen Wüste einer
zerstörten Großstadt lebt.
Der
Professor (einen Namen bekommt er im Film nicht) lebt mit einer Hand voll Überlebender
im Bunker eines Museums. Man hat sich zwischen Müll und Tod eingerichtet,
verlässt das Gebäude nur, um Lebensmittel und Medikamente zu organisieren
- dann aber stets mit Gasmaske und Schutzanzug. Über die Stadt sind zahlreiche
solcher "Schutzräume" verteilt, die jedoch nach und nach von
der Regierung aufgelöst werden und deren gesunde Bewohner in einen Zentralbunker
verbracht werden. Der Professor indes verfolgt eine Hypothese: Kann es sein,
dass die atomare Katastrophe gar nicht den ganzen Planeten erfasst hat? Hat
die Menschheit eine Zukunft? Dies fragt er sich und in Briefen seinen verschollenen
Sohn, während um ihn herum alles stirbt; erstes Opfer ist seine strahlenkranke
Frau.
In
einem nahe gelegenen Schutzraum umsorgt ein Geistlicher eine Schar stummer Kinder,
die allesamt - auf Grund der Tatsache, dass sie Waisen sind und weil sie nicht
sprechen (können?) - nicht in den Zentralbunker gelassen werden. Als der
Pater stirbt, nimmt sich der Professor der Kinder an, weil auch seine Bunkermitbewohner
nach und nach entweder freiwillig aus dem Leben geschieden sind oder in den
Zentralbunker gehen. Er versucht in ihnen die Erinnerung an humanistische Werte
und Gemeinschaftssinn wachzuhalten.
Briefe
eines Toten
ist erzählerisch wie technisch ein bedrückendes Dokument der Angst
vor dem Holocaust. Aber - und da zeigt sich die Handschrift Strugatskys - eben
nicht ausschließlich. Den Professor und seine Leidensgenossen beschäftigen
fortwährend die Fragen nach der Menschlichkeit, nach den Bedingungen des
Humanen und der Absurdität des Krieges. Ein Bewohner des Museumsbunkers
etwa diktiert seiner Sekretärin ein pathetisches Pamphlet über die
Fatalität des Zivilisationsprozesses in die Maschine, geprägt von
tiefem Ekel vor dem Fortschritt und dem Bewusstsein des endgültigen Endes
der Menschheit - quasi als Testament für nachfolgende Zivilisationen. Ein
Geistlicher - oder zumindest einer der Mitbewohner, der diese Funktion in der
Gruppe eingenommen hat, spricht in einem Abschiedsgebet kurz vor seinem Suizid
der Menschheit seine tiefe Liebe aus, die gerade am Ende aller Tage am größten
geworden sei. Und der Professor schließlich - offenbar ein Mathematiker
- übermittelt seinem verlorenen Sohn die Geschichte seiner Ängste,
Träume und Forschungen, die alle zusammen stets das eine ausdrücken:
seine Ambivalenz zwischen Hoffnung und Selbstaufgabe, die sein ganze Leben kennzeichnen
- nicht nur im Angesicht des sicheren Endes.
Der
Film spart sich jedes Pathos. Seine Bilder sind größtenteils in Sepia
getönt und vermitteln ein monotones Bild der Verwüstung. Die Kulissen
bestehen aus zerstörten Häusern, Fahrzeugen, Alltagsgegenständen.
Schnee und Schneematsch, tiefe, tümpelartige Pfützen und Leichen bestimmen
die Welt außerhalb des Bunkers. Die mise-en-scene erinnert mehr als einmal
an die Bilderschrift Tarkovskys, der ebenfalls in Bildern größter
Zerstörung - man erinnere sich an die Zone in Stalker
- größte Harmonie im Stande war entstehen zu lassen. Konstantin Lopushansky
stellt sich in genau diese visuelle Tradition: Briefe eines Toten ist gleichermaßen
ein Film des Untergangs, wie auch der konstruktiven Energie, die aus diesem
Untergang zu erwachsen scheint. Fast möchte man von "sowjetischer
Metaphysik" sprechen, die einem da aus den Bildern entgegenströmt,
wenn nicht - wie ebenfalls bei Tarkowskij - die Erzählung selbst immer
wieder einen Kontrapunkt zum Gezeigten bilden würde.
Briefe
eines Toten
ist ein eindringliches Mahnbild für die Vernunft, sowohl im Protest gegen
den irrationalen Atomkrieg, als auch in der resoluten Betonung der Humanität
des Menschen, die nicht zuletzt einen finalen Anker der Hoffnung darstellt.
Daher schließt der Film dann auch mit einem Zitat aus dem berüchtigten
1955er "Russel-Einstein-Manifest" gegen den Atomkrieg: "There
lies before us, if we choose, continual progress in happiness, knowledge, and
wisdom. Shall
we, instead, choose death, because we cannot forget our quarrels?"
Stefan
Höltgen
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Briefe
eines Toten
(Pisma
myortvogo cheloveka, UdSSR 1986)
Regie:
Konstantin Lopushansky
Buch:
Konstantin Lopushansky, Vyacheslav Rybakov und Boris Strugatsky
Kamera:
Nikolai Pokoptsev, Musik: Aleksandr Zhurbin
Darsteller:
Rolan Bykov, Iosif Ryklin, Viktor Mikhajlov, Aleksandr Sabinin, Nora Gryakalova
u. a.
Verleih:
Lenfilm Studio, Länge: 82 Minuten
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