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Carne
Gaspar Noés Frühwerk "Carne"
ist – wie bei Noé üblich - eine autoaggressive Provokation, zynisch
und offensiv. Die Filmfunktionen ordnen sich lieber einer Sinnesattacke, wie
den bewusst entnervenden tiefen Basseffekten, als einer herkömmlichen Erzählweise
unter. Dialog gibt es kaum, eher einen konstanten, inneren Monolog, ausgehend
von dem Schlachter – der Hauptperson in Noés Aufsehen erregenden Filmuniversum.
"Carne" erzählt die Geschichte dieses namenlosen Schlachters,
dessen Frau schwanger wird. Doch nach der Geburt eines geistig behinderten Mädchens,
verlässt die junge Mutter Mann und Kind, ihre Familie fortan verleugnend.
Die nächsten 14 Jahre spult Noé im Schnelldurchgang vor. 1979 bestreitet
der Schlachter immer noch seine monotone Arbeit. Jeden Tag Pferde erschießen,
ihnen die Kehle durchschneiden und häuten. Der unappetitliche Schlachtungsvorgang
wird natürlich von Noé gezeigt. Wehe, wir winden uns nicht vor Ekel
und Abscheu in unseren Sesseln.
Und wehe, wir erkennen nicht Noés wenig subtile
Anspielung auf die anschwellende, pädophile Lust auf den zur Weiblichkeit
herangewachsenen Körper seiner in sich zurückgezogenen Tochter, wenn
er auch noch ihren nackten Teenagerkörper unter der Dusche wäscht.
Doch es kommt nicht zum Inzest. Es kommt nur zu der Erkenntnis, dass der Schlachter
mit dieser Situation vollkommen überfordert ist. Und so überreagiert
er auch, als einer seiner Arbeitskollegen seine stumm bleibende Tochter mit
einem jungen Kerl sieht. Der Fleck ihrer ersten Menstruation auf ihrem Rock
missdeutet der Schlachter als Vergewaltigungswunde und rennt wie manisch heraus,
um sich an jenem – nie begangenen – Verbrechen zu rächen. Der erstbeste
Mann im passenden Alter bekommt das Messer in den Mund gerammt und wird zum
Krüppel geschlagen. Doch den vermeintlich Schuldigen trifft der Schlachter
nie. Er kommt ins Gefängnis. Und nachdem er entlassen wird, zieht er mit
seiner verhassten neuen Chefin, einer drallen Café-Besitzerin zusammen.
Und dann… doch das wiederum ist eine andere Geschichte. Nämlich die von
"Seul
Contre Tous", ("Menschenfeind"),
dem sieben Jahre später entstandenen Langfilm über das Schicksal des
Schlachters.
Stilistisch und inhaltlich ist "Carne"
kaum von „Seul Contre Cous“ zu unterscheiden. Das gleiche Cinemascope-Format,
die gleichen leeren, verzweifelten Einstellungen und der gleiche wütende
Voice-over des Schlachters. Obwohl zwischen "Carne" und "Seul
Contre Trous" sieben Jahre liegen, scheint dieser kurze Film als zwingender
Prolog zu Noés Meisterwerk konzipiert zu sein. Und prinzipiell macht
das zeitnahe und bündige Sichten beider Filme, zumindest für den Plot,
Sinn. Motive und Figurenkonstellationen, die in "Seul Contre Tous"
wichtig sein könnten, werden hier etabliert und vorgestellt. Ästhetisch
gleicht "Carne" seinem großen Nachfolger fast eins zu eins.
Eine der wenigen Ideen, die Noé nicht in seinen Langfilm herüberrettete,
war die Relevanz des Fernsehens. In "Carne" sehen wir immer wieder,
wie sich die Tochter lethargisch vor dem Schwarzweißgerät TV-Wiederholungen
von so ungewöhnlichen und sicherlich verstörenden Filmen wie Lewis'
"Blood
Feast" oder einem Santos-Film
ansieht. Doch funktioniert "Carne" auch als separierter Film, dann
jedoch eher als gesellschaftssatirische Provokation, als filmische Spucke ins
Gesicht. "Carne" gewinnt nur als Komplementärfilm zu "Seul
Contre Tous" an Gewicht und emotionalem Bezug. Als Einzelexperiment sicherlich
ansehbar, aber definitiv nur als Doppelvorstellung konzipiert.
Björn Last
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Carne
Frankreich,
1991. Regie: Gaspar Noé. Drehbuch: Gaspar Noé. Kamera: Dominique
Colin. Schnitt: Lucile Hadzihalilovic. Darsteller: Philippe Nahon (Der Schlachter),
Frankie Pain (Chefin), Blandine Lenoir (Die Tochter). Farbe. 38 Min.
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