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Chicago
"So I took the shotgun of the wall and fired two warning shots - into
his head." singt eine der Delinquentinnen und sie ist umgeben von Frauen,
die ähnliche Taten vollbracht haben. Sie haben erstochen, erdrosselt,
vergiftet, meist ihre Männer, und meist, weil diese sie einmal zu oft
betrogen haben. Die Frauen sind verführerisch, verrucht, und alle sitzen
sie im Gefängnis in einem Chicago der 20er Jahre und warten auf ihren
Prozess. Einen Prozess, der sie entweder in die Freiheit entläßt oder sie
zum Tod durch den Strick verurteilt. Unter den Frauen ist auch Roxie Hart
(Renée Zellweger), und genau wie die anderen versucht auch sie so schnell
wie möglich Billy Flynn (Richard Gere) als Verteidiger zu engagieren,
denn seine Verteidigung bedeutet den beinahe sicheren Freispruch.
Es geht denn allerdings im weiteren weniger darum, ob Flynn beginnt, für
Roxie zu arbeiten, denn vielmehr darum, auch weiter im Rampenlicht zu
bleiben, denn dies ist genau das, was der Anwalt am meisten braucht.
Verteidigt wird, wer am häufigsten in den Schlagzeilen ist, wer der
'Star' der Frauen zu werden vermag. Ein Star zu sein ist der Traum, den
Roxie vor ihrer Tat träumte, und so versucht sie eben, weniger auf der
Bühen, denn vielmehr im Gefängnis ihre Rolle zu spielen, vom Publikum -
den Zeitungslesern - geliebt zu werden und so den Beistand Flynns zu
erhalten.
Musicals haben wieder Konjunktur, nicht nur in Indien, wo in Bollywood
ein singender Film nach dem anderen die Studios verläßt, seit Jahrzehnten
nun schon, sondern auch in Europa und Hollywood, wo mit "Huit Femmes",
"Everyone says: I love you" oder "Moulin Rouge!", um nur einige zu
nennen, der Gesang wieder zurückgekehrt ist zu den bewegten Bildern des
Kinos. "Moulin Rouge!" von Baz Lurmann war eines der besten Musicals der
letzten Jahre, und dies hauptsächlich aus einem Grund: Wie kaum ein
anderer wusste sich Luhrmann den Tugenden des Kinos zu bedienen:
Geschwindigkeit, Licht, Farbe, ornamentale Tanznummern und Zitate im
Überfluss machten seinen Film zu einem Werk, das stärker als viele andere Gesang und Tanz mit genuin
filmischen Mitteln darzustellen wusste, mit Kamerazaubereien und
Schnittorgien.
So betrachtet ist denn auch "Chicago" ein gewisser Rückschritt, denn
statt sich filmischer Ausdrucksmittel zu bedienen, wird hier immer
häufiger wieder zurückgegriffen auf die ein oder andere Variante des
abgefilmten Theaters. Sicher sind Gründe für die andauernde
Thematisierung der Bühne auch das Drehbuch, das seinerzeit von Bob Fosse
für die Bühne konzipiert worden ist, sowie die ständige Wunschvorstellung
der Protagonistin, in einer Bühnenwelt zu leben. Dennoch hätte man sich
ein wenig mehr Loslösung vom Theatralen gewünscht. Die Konzentration auf
die Bühne bringt auch eine Verlangsamung mit sich, zu starr wirken die
aneinandergereihten Nummern, ein wenig zu konservativ inszeniert sind die
ständigen Überblendungen der Diegese und ihrer Repräsentation auf
imaginären Bühnen.
Ganz selten nur werden Pointen wirklich durch eine rein filmische
Instanz erreicht, so etwa bei der Verkündung des Urteils, meist bleiben
Film und Theater parallele Welten. Auch diese beständige Metaphorisierung
der Bühnenbretter als Leben, des Theaters als Weltmodell, behindert durch
ihre Dominanz manchmal ein wenig den Schwung des Stückes. Der kommt dann
allerdings - Gott sei Dank - wirbelnd und berauschend wieder zurück in
den Film durch die wunderbare Musik, der keine Inszenierung wirklich zu
schaden vermag und durch die beiden Hauptdarstellerinnen. Es macht Spaß,
zuzusehen, wie sich Catherine Zeta-Jones und Renée Zellweger in ihrem
Wettstreit um die Gunst Geres gegenseitig in ihren Auftritten
übertreffen, beide vermitteln die Leichtigkeit, Schnelligkeit und Atmosphäre, die man manchmal in der
Inszenierung vermisst.
Benjamin Happel
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Chicago
Rob Marshall
USA, 2002
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