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Children
of Men
Die Furchtbarkeit der Unfruchtbarkeit
Es gibt Filme, die beschreiben die Realität.
Und dann gibt es Filme, die erzählen von imaginären Welten. Selten
aber gibt es Filme, die beides bewerkstelligen. "Children of Men"
ist so ein Film. Zunächst konfrontiert er uns mit einem eher abseitigen
Was-wäre-wenn-Szenario – dann aber macht er eine Geschichte daraus, deren
Realismus einem ins Gesicht springt.
Der Mexikaner Alfonso Cuarón, der zuletzt
den dritten Teil der Harry-Potter-Serie in Szene setzte, hat in "Children Of Men"
ein 1993 erschienenes Buch des britischen Autors P. D. James adaptiert.
Am Anfang steht eine waghalsige Idee: Um das Jahr
2009 herum werden aus rätselhaften Gründen keine Kinder mehr geboren.
Die Menschheit wird unfruchtbar. Der jüngste Mensch der Welt ist im Jahr
2027 gerade 18, als er von einem seiner Fans aus Versehen umgebracht wird, während
wir in einem grauen, depressiven London unserem Helden Theo begegnen, einem
desillusionierten Beamten, gespielt von Clive Owen. Großbritannien ist
ein Polizeistaat, die Fenster sind vergittert, in den Wäldern hausen Räuberbanden,
Flüchtlinge strömen ins Land und werden in Käfige gesperrt, die
Müllabfuhr scheint seit Jahren zu streiken, die Welt ist kein angenehmer
Ort mehr – und dabei ist England noch die Insel der Seligen, denn der Rest der
Welt ist komplett im Chaos versunken. Theo besucht gelegentlich einen lustigen
Althippie, der in einer Waldhütte haust und Gras anbaut, sonst passiert
wenig in seinem Leben, bis seine Ex-Frau, mittlerweile Untergrundaktivistin,
ihn eines Tages entführen läßt und ihm einen Auftrag gibt: Er
soll eine junge Frau außer Landes schaffen – selbige ist nämlich
im achten Monat schwanger. Theo beginnt eine Reise, die bald zur Flucht wird,
und versucht inmitten einer Menschheit, die sich im Angesicht des Unterganges
selbst zerfleischt, sein eigenes und das werdende Leben zu retten.
Das ist nun eine ziemlich gewagte Geschichte, aus
der man auch einen ganz furchtbaren Film hätte machen können. Daß
es kein solcher geworden ist, liegt zum einen am erbarmungslosen Detailrealismus
der Filmemacher, an der konsequenten Ernsthaftigkeit, mit der die Idee bis zum
Ende durchgezogen wird, und zum anderen am großen Mut zu großen
Lücken. Es gehört nämlich viel dazu, sich eine ganze Welt auszudenken,
und die meisten scheitern daran – Hollywoods imaginäre Welten wirken oft
eher wie ein Kinderzimmer, dem man entwachsen ist. Das Jahr 2027 aber, das wir
hier sehen, ist akribisch durchdacht und zugleich voller Seitenhiebe auf die
Welt, in der wir heute bereits leben. Andererseits aber läuft Cuarón
nicht in die Falle, alles erklären zu wollen. Er läßt Leerstellen,
zu denen man sich selber was denken darf – wo kam die Unfruchtbarkeit eigentlich
her? Wo geht die Reise am Ende hin? Keine Ahnung. Macht auch nichts. Denn im
Kern erzählt er keine komplette Geschichte, sondern stellt Fragen: Würden
wir uns wirklich so verhalten? Befinden wir uns schon auf einem Weg, den dieser
Film einfach ins Groteske überzeichnet?
Und damit geht "Children of Men" auch übers
Science-Fiction-Genre hinaus, denn er entwirft nicht nur eine Parallelwelt wie
"Blade
Runner" oder "Brazil",
sondern er verknüpft sie ganz direkt mit unserer Realität und fühlt
sich streckenweise, auch durch die agile Handkamera und die ausgebleichten Farben,
fast an wie ein aus der Zukunft gefallener Dokumentarfilm. Clive Owen in der
Hauptrolle ist außerdem eine traumhafte Besetzung: Nirgends wirft er sich
in Pose, nie hält er uns sein Heldentum demonstrativ unter die Nase, und
gerade dadurch wird er einer der charismatischsten Kinohelden der letzten Zeit.
Da ist es denn auch zweitrangig, daß auf der Tonspur mehr mystische Choräle
gesungen werden als bei "Herr
der Ringe", obwohl deutlich
weniger völlig ausgereicht hätten, denn Alfonso Cuarón hat
immer noch genug Geschmack, die Musik auch rechtzeitig wieder abzudrehen.
Daß der ganze Film nun außerdem wirkt
wie eine absurde Parodie auf die Fortpflanzungsdebatte, mit der Deutschland
sich momentan selber auf die Nerven geht, ist wohl eher Zufall und zugleich
auch nicht, denn das Thema, wie es mit der Menschheit überhaupt weitergehen
soll, liegt ja irgendwie in der Luft. Normalerweise reden alle von Bevölkerungsexplosion,
hier ist es mal auf den Kopf gestellt. Und obwohl die zentrale Idee ein Phantasiegebäude
ist, ergibt sich am Ende ein Film, der einen mitreißt und lange nachwirkt.
Dietrich
Brüggemann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Children
of Men
Großbritannien
/ USA 2006
Regie:
Alfonso Cuarón - Darsteller: Clive Owen, Julianne Moore, Michael Caine,
Chiwetel Ejiofor, Charlie Hunnam, Peter Mullan, Danny Huston, Claire-Hope Ashitey,
Milenka James - Prädikat: besonders wertvoll - Länge: 109 min. FSK:
ab 16; Start: 9.11.2006
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