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Children
of Men
Herbergssuche
im Flüchtlingslager
Alfonso Cuaróns intensiver Sci-Fi-Thriller
„Children of Men“ erdet ein vieldeutig-bedeutungsschwangeres Zukunftsszenario
in pfiffigen Details und griffigem Realismus.
Großbritannien „in der nahen Zukunft“ – nach
„Brazil“ oder „V
for Vendetta“ weiß man schon
recht genau, was man sich darunter vorzustellen hat: Terroranschläge gehören
zum Alltag, Flüchtlinge werden in Ghettos hinter Stacheldraht zusammengepfercht,
und die linke Öffentlichkeit hat sich entweder in paramilitärischen
Splittergruppen organisiert oder (siehe Michael Caine in einer tragenden Nebenrolle
als schrulliger Ex-Karikaturist mit Hippie-Mähne, Häuschen im Wald
und eigener Hanf-Plantage) endgültig ins Private zurückgezogen.
Der eigentliche Clou des Zukunftsszenarios von „Children
of Men“ lautet: Aufgrund einer unerklärlichen globalen Unfruchtbarkeitskrise
wurde seit 18 Jahren schon kein Kind mehr geboren. Die Menschheit sieht sich
selbst beim Aussterben zu. Das hört sich verdächtig nach der weinerlichen
Angstphantasie besorgter weißer Mitteleuropäer an, für die Geburtenrückgänge
in der Ersten Welt das Ende der Menschheit überhaupt bedeuten. Autorin
der Buchvorlage ist zwar nicht Elisabeth „Kinderkriegen statt Partymachen“ Gehrer,
aber immerhin die konservativ-religiöse britische Baroness P. D. James.
Und so fehlt es dann auch nicht an messianischen Obertönen, wenn Theo (Clive
Owen), der trübsinnige Held wider Willen von „Children of Men“, die letzte
schwangere Frau auf Erden unter Lebensgefahr vorbei an protofaschistischen Militärs
und zwielichtigen Untergrund-Organisationen in Sicherheit bringen muss: Ihr
Kind könnte der Heiland sein, an dem die Welt genesen wird.
Wenn Alfonso Cuaróns Verfilmung dieses Stoffes
nun einer der intensivsten Blockbuster des Jahres ist, dann liegt das vor allem
daran, dass Cuarón die übergroßen Mythentrümmer dieser
postapokalyptischen Herbergssuche zwar ernst nimmt, aber zugleich mit pfiffigen
Details und griffigem Realismus untergräbt: Die schwangere „neue Maria“
Kee ist hier eine resolute schwarze Illegale und in einer haarsträubenden
Verfolgungsjagd muss das verbeulte Fluchtauto schon mal angeschoben werden,
bevor es anspringt.
„Children of Men“ bedient sich bei christlicher Ikonographie
genauso ungeniert wie bei der popkulturellen von „Blade
Runner“, und auf der Reise durch
ein Flüchtlingslager im letzten Drittel des Films wühlt der Film tief
in den massenmedialen Bildgedächtnissen von Auschwitz und Balkankriegen.
Doch im Gegensatz zum unbeschwert flächigen Zitate-Patchwork etwa von „V
for Vendetta“ entwickelt Cuarón eine eigenständige, betont nüchterne
Optik aus minutenlangen, wendigen Halbtotalen, die der Überfülle an
Referenzen Halt und Erdung gibt. Ein paar nervenaufreibende, bestechend flüssig
choreographierte Actionsequenzen ergibt dieser Plansequenzen-Look übrigens
auch.
Joachim Schätz
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Falter
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Children
of Men
Großbritannien
/ USA 2006
Regie:
Alfonso Cuarón - Darsteller: Clive Owen, Julianne Moore, Michael Caine,
Chiwetel Ejiofor, Charlie Hunnam, Peter Mullan, Danny Huston, Claire-Hope Ashitey,
Milenka James - Prädikat: besonders wertvoll - Länge: 109 min. FSK:
ab 16; Start: 9.11.2006
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