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China Girl
Boy meets Girl. Boy
and Girl fall for each other. Und dann versuchen alle anderen, einander umzubringen.
China Girl (1987) ist Abel Ferraras "Romeo und Julia" (eine
elisabethanische Tragödie) - und gleich auch noch seine "West Side
Story" (ein Musical über die Straßen New Yorks): Ein Meisterwerk des
Neon-Realismus.
Unlängst ging am österreichischen Privatsender ATV+ ein befremdlicher
Werbespot in heavy rotation: Sechs
Minuten lang durfte man zusehen, wie fesche junge Menschen allerhand Textilien
der neuen H&M-Kollektion "&denim" tragen, in ausnahmslos
plakatfähigen Liebens- und Leidensposen und unterstützt von klebrigem
Kuschelsoul. Weil’s schon mal so lange dauerte, stand es sogar im
Fernsehprogramm, und auf dem Weg dorthin verwandelte sich die bezahlte Werbung
irgendwie zum mutig programmierten Autorenfilm: David LaChapelles Romeo und Julia. Bei Ansicht dieses Undings wird
einem die Kluft bewusst zwischen den standardisierten, luftdichten
Lackierübungen, die die Grundästhetik des durchschnittlichen Werbefilms
ausmachen, und den aufregenden, eigensinnigen und eminent aussagekräftigen
Stilisierungen, wie sie ein Meister des zeitgenössischen amerikanischen Kinos
beherrscht: Abel Ferrara.
Die Bild- und Tonarrangements, in denen Ferrara seine
"Romeo und Julia"-Fassung erzählt, sind kaum weniger artifiziell,
unwirklich, gewollt als in LaChapelles Version. Doch während bei LaChapelle
(oder eher: bei H&M) alle formalen Mätzchen - vom gleißenden Licht über den
Weichzeichner bis hin zu den gleitenden Kamerafahrten - dazu dienen die
Oberflächen zu versiegeln, sind die Manierismen Ferraras Analyse-Instrumente,
Seziermesser, mit denen tief ins Fleisch der Erzählstoffe eingedrungen wird,
bis in den innersten Kern ihrer Ambivalenzen. Immer wieder machen sich Elemente
des Films selbständig, rast eine Kamerafahrt durch den Raum, saugt eine
Einstellung Farben auf, genießt eine Montage einen Rhythmus. Bisweilen liegen
die Reize, denen Ferrara huldigt, gefährlich nahe an den aalglatten
"Visionen" von Werbelook-Vorreitern des 80er-Jahre-Kinos wie Tony
Scott, Alan Parker oder Adrian Lyne - Neonlichter, Club-Atmosphäre, adrette
Düsternis und fotogene Gewalt. Aber diese Reize sind dann doch so originell
eingefangen, genau angeordnet und mit Details versehen, dass wir jeden Moment
hinter den großen Aufwallungen von Liebe und Brutalität eine konkrete
Lebenswelt spüren, mit der der Film vertraut ist. Und vor allem: Ferraras
Arabesken wuchern nicht ins Leere, sondern sie bilden erst das Unterholz an
Konnotationen und Denkbewegungen, in dem seine knappen, scheinbar simplen
Genre-Rekapitulationen ihren ganzen Reiz entfalten.
Schon was während des Vorspanns abläuft, ist reinste
Kinemato-Stenographie. In einer selbsterklärenden Montage wird zuerst einer der
wichtigsten Handlungsschauplätze eingeführt - eine Hauptstraße im New Yorker
Little Italy -, und dann pars pro toto
der Konflikt, um den es gehen wird: Ein Restaurant wird von einer Familie aus
dem benachbarten Chinesen-Viertel übernommen, zum Missfallen mancher Einwohner.
Gleich nach dieser Credit-Sequenz lässt Ferrara ohne viel Federlesen den
Italoamerikaner Tony (Richard Panebianco, dessen Nachname nicht umsonst
Weißbrot bedeutet) und die aus Hong Kong stammende Tye (Sari Chang in einem
ansprechenden Filmdebüt) in ewiger Liebe entbrennen - beim Tanzen im ethnisch
gemischten Club. Zum unsterblich Verlieben reichen anscheinend eine einzige
miteinander durchgetanzte Nummer, dann schiebt Ferrara nämlich sofort eine
unglaublich energisch durchexerzierte Verfolgungsjagd chinesischer Jugendlicher
auf Tony nach, samt anschließender Schlägerei.
In dieser Ereignisdichte geht es in den folgenden
knapp 80 Minuten weiter: Für die Liebesgeschichte interessiert sich Ferrara nur
mäßig (kein Unglück, bedenkt man Panebiancos mäßiges Charisma), dafür umso mehr
für die grotesk verwickelten Konflikte innerhalb und zwischen den ethnischen communities, für die diese Romanze mehr
zufälliger Anlass als echte Ursache ist. Ironischerweise sind nicht nur die
zwei Verliebten an einer friedlichen Koexistenz der beiden Gruppen
interessiert, sondern auch die geschäftlich verbündeten Ober-Mafiosi der
Gemeinden, was Jugendliche auf beiden Seiten zur Rebellion treibt und zu
reichlich Loyalitätskonflikten und Blutvergießen in verschiedensten, bisweilen
irrwitzigen Kombination führt. Wenn nach einigen Wendungen der chinesische
Imbiss in Little Italy explodiert, der zu Beginn eröffnet wurde, - einer jener
unmittelbaren, lapidaren Schockmomente, in denen Gewalt ohne Ankündigung oder
dramatische Vorbereitung über die Menschen in diesem Film hereinfällt -, dann
sind es paradoxerweise die rassistischen, italoamerikansichen Schlägertypen,
die die Familie zu retten versucht. (Um ganz ähnliche Widersprüchlichkeiten zu
provozieren, brauchte unlängst Paul Haggis’ Crash
noch einen riesigen Erzählapparat und kräftige Mithilfe von Gott Schicksal.)
Natürlich, mit Subtilität haben Ferraras Ambivalenzen
nur aus der Ferne eine Ähnlichkeit. Gerade seine Genre-Filme rund um 1990
wirken nicht selten in der erzählerischen Ausführung roh und holprig, sie sind
nicht ausformuliert und -gedacht. Aber in ihrer Wucht und Fülle an
Assoziationen sind sie unendlich faszinierend und eminent thought provoking (ein schlechterdings unübersetzbarer Ausdruck,
wie die Übersetzung "zum Nachdenken anregend"
beweist). Ausgerechnet in diesen vor
schicken Oberflächen, blödem Machismo und zweidimensionalem Personal oft nur so
strotzenden Filmen ist fühl- und sichtbar, wie sich jemand ernsthaft und
leidenschaftlich mit den inneren Widersprüchen einer Nation auseinandersetzt,
mit ethnischen Konflikten und Allianzen (China
Girl), dem Krieg gegen Drogenkriminalität (The King of New York), den Spannungen in der Kern- und patchwork-Familie (Body Snatchers).
Damit lassen sich keine Oscars gewinnen, aber Momente
von traumartiger Klarheit: Einmal, als Tony und Tye von zwei chinesischen
Jugendlichen bedroht werden, tauchen plötzlich aus der nächsten Straßenecke
zwei berittene Polizisten auf und tun, was ihre Aufgabe ist: Die Jugendlichen
alle zurück in "ihre" jeweiligen, ethnisch zugeteilten Wohnviertel
schicken. Es ist das einzige Mal, dass wir dem Staat als einer ordnenden,
eingreifenden Macht begegnen, und es ist, als würde eine alte, obsolete Ordnung
kurz einmal vorbeischauen, um die Menschen sich gleich wieder selbst zu
überlassen.
Joachim
Schätz (27.9.2005)
Dieser
Text ist auch erschienen in: flourian.ruhezone
China Girl
USA 1987
Regie: Abel
Ferrara
Autor:
Nicholas St. John
Kamera: Bojan
Bazelli
Musik: Joe Delia
Darsteller: James
Russo, Richard Panebianco, Sari Chang ua.
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