La ciénaga - Der Morast
Einige
argentinische Kritiker finden Gefallen daran, "La ciénaga"
als UFO zu bezeichnen. Das steht für "Unidentifiziertes Filmobjekt".
Sein Erscheinen in der argentinischen Filmlandschaft kam einer schönen,
aber seltsamen Überraschung gleich. Es fiel schwer, ästhetische Vorbilder
auszumachen. Es fiel schwer, bis eine Nähe zu jener Mischform aus provinziellem
Melodram und absurdem Theater ausgemacht wurde, die sich aus seiner Geschichte,
aus seinen Bildern schöpft. Alles an diesem Film ist ungewohnt: seine ästhetischen
Codes, sein Blick auf das Leben im Norden Argentiniens, seine ruhige und zirkuläre
Erzählweise, seine Handhabung der Schauspielkunst. Dieses seltsame Objekt
hat aber noch eine zusätzliche Besonderheit: Es ist von einer Frau gemacht.
Mit
Ausnahme des Werks von María Luisa Bemberg ist das argentinische Kino
arm an weiblichen Regisseuren. Lucrecia Martels meisterhafte Hand hinter der
unruhigen Kamera von "La ciénaga" schien ein vergessenes Element
unseres Filmschaffens wiederzuentdecken: die Möglichkeit, anhand eines
weiblichen Blicks zu erzählen - eines Blicks, der bestimmte Bräuche
und Gewohnheiten auf eine andere Weise zu beobachten in der Lage ist. Wir haben
diese Bräuche und Gewohnheiten schon oft gesehen und sie verinnerlicht
- jedoch stets aus männlicher Sicht.
"La
ciénaga" ist die Geschichte eines Abstiegs, eine Fallstudie. Wie
der Titel schon suggeriert, ist ein langsamer Abstieg gemeint, sumpfig, mühsam
und ohne Eile. Es ist der Abstieg einer Gesellschaft wie der argentinischen,
die seit jeher diese mühsame Art des Untergangs durchlebte, ein Untergang
ohne Eile, aber auch ohne Zeit zum Luftholen. Die aktuellen politischen Geschehnisse
dieses Landes (die nun seinen Abstieg auf sehr brutale Art und Weise beschleunigt
haben) fanden erst nach diesem Film statt - er stammt aus dem Jahr 2000 - aber
sie beweisen nur, was in "La ciénaga" bereits exponiert wird:
daß die Ignoranz dem Glück der anderen gegenüber, die Apathie,
das Fehlen jeglicher Art von Ordnung und Respekt, die Versprechen eines Landes
zugrunde gerichtet hat.
Martel
weitet ihren Blick, beschränkt sich nicht nur auf das soziale Panorama.
Das Porträt steht bei ihr nicht im Mittelpunkt; es geht nicht nur darum,
Wahrheiten auszusprechen oder mit erhobenem Zeigefinger an das Elend des Lebens
in diesem Land zu erinnern. In "La ciénaga" versucht sie mit
Akribie, den Rhythmus des Lebens zweier Familien darzustellen, mit ihren festgefahrenen
Ritualen, ihren Gewohnheiten, ihrem ständigen Kokettieren mit dem Tod.
Es ist ein Film, in dem die Präsenz von Sex und Tod allgegenwärtig
ist, in jeder einzelnen von Martels Figuren mehr oder weniger versteckt.
Die
Matronen, ihre Ehemänner, ihre Kinder, ihre Dienerinnen und die Freunde
der Dienerinnen: Sie alle bilden den Kreis der Figuren, die unter der trügerischen
Ruhe der Provinz mit dem Verlangen spielen. Da sind jene, die zu müde sind,
um weiterzukämpfen, und die ihre Wunden lecken; da sind jene, die glauben,
daß "die Indianerinnen" an allem Schuld seien, und ihre eigene
Dekadenz dabei übersehen. Da sind auch die Mädchen, die zweifelnd
zwischen der Kritik und dem Wohlwollen ihrer Eltern stehen. Und da ist das Erscheinen
der Jungfrau, virtuelle Richterin dieses Kuriositätenkabinetts, dessen
Bewohner, um in einer von der Hand Gottes im Stich gelassenen Landschaft fromm
zu bleiben, es sich zur Gewohnheit machten, sich nicht zu erkennen zu geben.
"La
ciénaga" gewann den Alfred Bauer-Preis für das beste Erstlingswerk
auf der Berlinale 2001. Und nun öffneten sich die Pforten der großen
Festivals auch für andere Filmemacher, die ihre Werke präsentierten,
wie Pablo Trapero oder Adrián Caetano, deren Filme dieses Jahr in Cannes
zu sehen waren. Die internationale Filmkritik fängt an, das Geschehen hier
unten mit einem gewissen Maß an Interesse zu verfolgen, und Martel ist
ein kleiner "Star" im internationalen Filmuniversum. Das bringt eine
große Erwartungshaltung bezüglich ihres zweiten Films, "La niña
santa", mit sich.
Aber
es gibt noch ein weiteres, aktuelleres Phänomen, das ebenfalls ein Echo
auf "La ciénaga" ist: die erstaunliche Menge an argentinischen
Filmen, die von Frauen gemacht werden. In nur wenigen Monaten wurden in Argentinien
vier Filme von Regisseurinnen aufgeführt - "Taxi - Un encuentro",
"Herencia", "Vagón fumador" und "Un día
de suerte" - wahrscheinlich mehr als in den letzten Jahren zusammen. Auf
seine Art ist "La ciénaga" zu einem erstaunlichen zirkulären
Phänomen geworden: ein Film, in dem alles, was nach unten fällt, eine
seltsame Reaktion nach oben provoziert.
Diego
Lerer
Der
Autor ist Filmredakteur bei "El Clarín" in Buenos Aires, der
auflagenstärksten spanischsprachigen Tageszeitung.
Übersetzung:
Sascha Seiler
Diese
Übersetzung ist erstmalig erschienen in:
La ciénaga – Der Morast
RA/ESP 2000. R,B: Lucrecia Martel. K: Hugo Colace. S: Santiago Ricci.
P: 4K Films u.a. D: Martín Adjemián, Diego Baenas, Leonora Balcarce,
Silvia Baylé u.a. 102 Min. Pegasos ab 22.8.02