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Derrida
Dokumentarfilm
über den "Vater der Dekonstruktion"
Irgendetwas
ist immer mit den Haaren. Schlohweiß und struppig stehen sie vom Kopf
ab, als sich Jacques Derrida – „Jackie, hast du deine Schlüssel?“ – von
seiner Frau Marguerite verabschiedet. Später werden sie beim Friseur bearbeitet;
mit Ruhe sehen wir fremden Händen beim Kämmen und Schneiden zu, bis
das leuchtende, dichte Gestrüpp kürzer anliegt.
Die
Haare sind ein Schlüssel zu diesem Film, der gerade mit der Kürze
seines Titels jede Menge Ansprüche weckt. Was wird Derrida mit Derrida
zu tun haben? Werden wir dem bekanntesten lebenden Philosophen in seinem Alltag
und seiner Biographie begegnen? Oder ist es eher dessen Methode der Dekonstruktion,
des analytischen Aufbrechens existenter, machtvoller Denk- und Sprechweisen,
die in der Dokumentation von Kirby Dick und Amy Zeiring Kofman vorgestellt wird?
Derrida, das zeigt sich schnell, will sich in beide Richtungen bewegen.
Dabei
kommt es nicht allein darauf an, dass wir dem Philosophen in seinem Zuhause
mit seiner Frau begegnen und mit beiden auf Vortragsreisen gehen. Es geht nicht
nur darum, sowohl Jacques und Marguerite Derrida über sich selbst sprechen
zu hören als auch in Textauszüge oder Vorträge zu Fragen nach
Rassismus, Tod, Vergebung und „dem Anderen“ einzutauchen. Wichtig für Derrida
ist vor allem die Organisation dieser Vielfalt – die Struktur des Bruchs, die
Freiheit des Wechsels zwischen den Zeiten, der sich am schönsten im schimmernden
Skalp des Philosophen spiegelt. Abrupte Sprünge zwischen dem lang- und
kurzhaarigen Derrida kündigen eine sukzessive, gleichsam „natürlich“
fortschreitende Logik des Erzählens auf. Danach kann davor sein und umgekehrt.
Ein lebendiger, von Derridas freundlicher Aufmerksamkeit infizierter Rhythmus
entsteht so, der sich an Fragen orientiert, die auf eine eigene Reise gehen.
Indem
sich dieser Rhythmus dem Ansatz Derridas annähert, gefestigte Muster von
Kontinuität und Bedeutungsbildung zu dekonstruieren, gewinnt Kirby Dicks
und Amy Zeiring Kofmans Porträt zugleich eine unerwartete Freiheit. Trotz
des Erwartungsdrucks und der Vielzahl an komplexen Gedankengängen ist Derrida
eher leicht – es wird viel gelacht in diesem Film, nur die Musik von Ryuichi
Sakamoto sorgt manchmal über eingesprochenen Derrida-Texten für unnötige
Bedeutungsschwere. Derridas Star-Persona, sein warmes Charisma, darf sich ausbreiten
und wird dabei gleichzeitig mit mehreren Kameras gespiegelt, was den selbst-bewussten
und nicht uneitlen Philosophen natürlich herausfordert. Sich selbst beim
Betrachten von Videobändern zu sehen, die ihn beim Betrachten von Derrida
zeigen, ist für Jacques Derrida ein gefundenes Fressen – Derrida wiederum
weiß das.
So
bekommt die spürbare Intimität zwischen Kirby Dick, Amy Zeiring Kofman
und Jacques Derrida, die sich über fünf Jahre aufgebaut hat, nie etwas
Exklusives. Beide Parteien wissen voneinander, spielen offen mit den Qualitäten
und den Bedingungen des anderen. „Das nennen sie Cinéma Verité?
Das ist alles falsch, normalerweise bin ich gar nicht so!“, lächelt Derrida
in die Kamera. Tja, ich ja auch nicht, scheint Derrida zu antworten.
Jan
Distelmeyer
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd film
Eine
kluge Dokumentation über und mit Jacques Derrida, die mit selbstreflexiver
Leichtigkeit Verbindungen zwischen dem Menschen und dem Philosophen, der als
„Vater der Dekonstruktion“ zu Weltruhm gekommen ist, herstellt.
Derrida
USA
2003. R,B: Kirby Dick, Amy Ziering Kofman. P: Amy Ziering Kofman. K: Kirsten
Johnson. Sch: Kirby Dick, Matt Clarke. M: Ryuichi Sakamoto. T: Mark Z. Danielewski,
Pascal Depres, Benoit Hillebrandt. Pg:
Jane Doe Films. V: Real Fiction. L: 84 Min.
Start:
6.11. (D)
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