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Der
diskrete Charme der Bourgeoisie
Zur
Entstehung von "Der diskrete Charme der Bourgeoisie (DCB)" schreibt
Bunuel in "Mein letzter Seufzer":
"Wir
suchten nach einem Vorwand für eine sich wiederholende Handlung, als [Produzent]
Silbermann uns etwas erzählte, was ihm passiert war. Er hatte Leute zu
sich zum Essen eingeladen, sagen wir an einem Dienstag, vergaß aber, es
seiner Frau zu erzählen, und vergaß außerdem, dass er selbst
an diesem Dienstag zum Essen eingeladen war ... Man brauchte das nur weiterzuentwickeln,
sich verschiedene Szenen auszudenken - ohne der Wahrscheinlichkeit allzuviel
Gewalt anzutun - , in denen eine Gruppe von Freunden Gelegenheit zu einem gemeinsamen
Essen zu finden versucht, was ihr aber nicht gelingt".
Damit
ist eigentlich die Geschichte von DCB erzählt, die keine echte Dramaturgie,
keinen echten Handlungsstrang notwendig aufeinanderfolgender szenischer Ereignisse
besitzt.
Hauptfiguren
des Stückes sind der Botschafter des südamerikanischen Fantasiestaates
Miranda, das mittelalterliche Ehepaar Thevenot, ihre ewig beschwipste und gelangweilte
Tochter Florence und die junge Senechal. Sie versuchen sich ständig gegenseitig
zum Essen einzuladen, was aber stets an dem einen oder anderen Grunde scheitert
oder gestört wird.
Erste
Episode ist die von Bunuel oben selbst beschriebene Geschichte Silbermans; die
so versetzten Gäste beschließen in einem nahegelegenen "restaurant
informelle" zu speisen. Als man gerade bestellen will, vernehmen sie Schluchzen
aus dem Nebenraum und müssen feststellen, dass dort der soeben verstobene
Besitzer des Restaurants aufgebahrt ist. Derart den Appetit verdorben, rückt
die Gruppe hungrig wieder ab.
Die
folgende Szene spielt in der Botschaft Mirandas, bei der die Herren Thevenot
und Senechal das vom Botschafter auf einen seiner letzten Reisen geschmuggelte
Kokain in Empfang nehmen. Man nimmt selbstredend die Gelegenheit wahr, sich
nochmals für den nächsten Samstag zum Essen zu verabreden. Bevor der
feine Botschafter sich als mieser, kleiner Drogendealer entlarven darf, kann
er ein wenig Südamerika-Rambo spielen, als er vor seinem Fenster eine junge
Frau entdeckt: er holt sein Gewehr und legt auf die Frau an mit der Begründung,
sie gehöre einer südamerikanischen Terrorgruppe an.
Beim
Essen am nächsten Samstag erscheinen gleich beide Gastgeber nicht, weil
sie von Geilheit getrieben beschließen, erst einmal übers Fenster
auszusteigen, um in aller Ruhe im Garten Sex zu haben. Zurückgekommen sind
die Gäste, die sich mit ein paar Dry Martinis, "dem bürgerlichsten
aller Drinks" (Bunuel) selbst unterhalten haben, bereits wieder abgezogen.
Dort treffen sie allerdings auf den Bischof, der sich verwirrenderweise um die
vakante Stelle des Gärtners bewirbt und diese schließlich auch bekommt.
Die
folgende Szene spielt in einem Cafe, in der sich die drei Damen verabredet haben.
Auch hier klappt nichts: der Tee und auch der Kaffee sind "aus", und
so beschließen sie Leitungswasser zu bestellen. Bevor sie sich wieder
verabschieden stellt sich Ihnen ein Leutnant vom Tisch gegenüber vor, der
den Damen seine Kindheit erzählt: nach dem Tod seiner Mutter hätte
die Tote ihn aufgefordert seinen Vater zu vergiften, eine Bitte, der er gerne
nachgekommen sei, da sein Vater ihn in ein Militärinternat abgeschoben
habe.
Im
Anschluss wieder einmal eine Verabredung, diesmal zum Ehebruch zwischen dem
Botschafter und Mdm. Senechal. Auch die wird gestört ... durch den Ehemann
selbst, der auch dann keinen Verdacht schöpft, als seine Frau aus dem Schlafzimmer
des Botschafters spaziert. Nachdem die Senechals die Wohnung verlassen haben,
darf die Terroristin, die laut Aussage des selbstgefälligen Botschafts-Machos
"besser für die Liebe als für den Krieg gemacht ist", wieder
mal einen Anschlagsversuch unternehmen, den der Botschafter nicht Ernst nimmt.
Bei
der nächsten Einladung im Hause der Thevenots ist gerade die Vorspeise
serviert als der Colonell, der sich gerade im Manöver befindet, sich mit
seiner Brigade im Hause breitmacht. Auch er wurde natürlich erst "morgen
erwartet". Das Dinner wird zur Feldspeisung, nicht bevor der Colonell ein
paar Marijuanatüten herumgereicht hat und ganz hip und hippielike erklärt,
Weed sei keine Droge. Auch die Brigade hat keine Zeit zum Essen, da sie ins
Manöver gerufen wird. Zuvor darf jedoch der bereits bekannte Leutnant seinen
Traum erzählen: dort sei er bereits verstorbenen Freunden auf der Straße
begegnet. Der Traum endet mit der Suche des Leutnants nach seiner Mutter. Als
Revanche für die Bewirtung lädt der Colonell die Gruppe am nächsten
Freitag zum Essen ein.
Die
folgenden Szenen werden alle als Traumsequenzen aufgelöst, wobei der Unterschied
zwischen Traum und Wirklichkeit immer mehr verschwimmt. Die Situationen enden
stets mit einer Katastrophe: Mord, Totschlag und Folter.
Das
Essen beim Colonell: Die servierten Hähnchen sind aus Plastik und auch
der Gastgeber läßt sich nicht blicken. Schließlich öffnet
sich ein Vorhang und die Gruppe befindet auf einer Theaterbühne. Fluchtartig
verlassen alle den Raum, da sie "ihren Text vergessen haben". Aufgelöst
wird die Szene als Traumsequenz Monsieurs Thevenots.
Die
Cocktailparty: dort wird der Botschafter von allen Seiten in gar nicht diskreter
und höflicher Weise auf die chaotischen Zustände seiner Heimat angesprochen
(Drogenhandel, Studentenunruhen, Sterblichkeitsrate, Wirtschaftsflaute). Er
kann sich der Anwürfe nicht erwehren. Schließlich kommt es zum Streit
zwischen dem Botschafter und Monsieurs Senechal, in dessen Verlauf der Botschafter
Senechal erschießt.
Aufgelöst
wird die Szene als Traumsequenz Monsieurs Senechals.
Die
Todesbeichte des Bischofs: Als der Bischof gerufen wird, um einem Sterbenden
die letzte Beichte abzunehmen, wird er gewahr, dass es sich bei dem Sterbenden
um den Mörder seiner Eltern handelt. Er nimmt ihm die letzte Beichte ab
und erschießt ihn anschließend kurzerhand mit einer Schrotflinte.
Diese
Szene wird nicht als Traum explizit aufgelöst.
Im
Gefängnis: nachdem die gesamte Gruppe bei einem Dinner vom Kommissar verhaftet
wird, darf sie die ganze Nacht im Gefängnis verbringen. Dort erzäht
ein Polizist vom Bloody Sergeant. Der Bloody Sergeant sei ein Polizist mit grausamen
Verhörmethoden gewesen: Folterungen gehörten zu seinem Repertoire
wie Gesetzesbrüche. Am 14. Juni sei er bei einer Demonstration erschossen
worden, weswegen dieser Tag als Bloody Sergeant Day begangen werde. An diesem
Tag käme der Sergeant als Untoter zurück, um sich an den Gefangenen
zu rächen.
Diese
Szene wird als Traum des Kommissars aufgelöst.
Aufgewacht
von seinem Albtraum wird der Kommissar vom Innenminister angewiesen, die inhaftierte
Gruppe umgehend freizulassen. Obwohl er durch Fluglärm nichts von der Konversation
versteht, folgt er der Anweisung.
Der
Anschlag: Wieder mal beim Abendessen wird die Gruppe von drei mit Maschinengewehren
gewaffneten Eindringlingen überrascht und erschossen. Nur der Botschafter
hatte sich unter dem Tisch verstecken können, wird aber doch entdeckt als
er in seiner Gier nach einem Stück Fleisch auf dem Tisch greift.
Diese
Szene wird als Traum des Botschafters aufgelöst, der daraufhin seine Verwirrung
in einem kräftigen Nachtmahl erstickt.
Der
Film endet mit einer immer wieder über den ganzen Film verstreuten Sequenz,
in der die Gruppe auf einer Straße ziellos wandernd gezeigt wird.
Einziger
roter Faden des Films sind die Rituale des Essens und Trinkens der gegenseitigen
Einladungen und deren Störungen oder deren Nichtzustandekommen. Dadurch
wirkt DCB wie ein Episodenfilm ohne eigentlichen Spannungsbogen. Umgesetzt hat
Bunuel diese mit einem guten Schuss Schwarzen Humors und mit genialen französischen
Schauspielern. Es zelebriert sich eine Klasse der Bourgoisie dort selbst in
immergleichen Ritualen ohne Ziel und Kraft.
Durch
ihre ritualisierten Stereotypen werden die Personen ständig der Lächerlichkeit
preisgegeben. Die Hohlheit der Rituale, die hilflose Oberflächkeit ihres
gegenseitigen Umgangs sind derart normal, dass sie einfach lächerlich wirken.
Lächerlich
allein ist der Umstand des ständigen Scheiterns der Treffen: nicht ein
einziges Mal kommt die Gruppe zu einem gemütlichen Mahl zusammen, nicht
ein einziges Mal wird das vollendet, was vorbereitet ist. Diese ständige
Nicht-Erfüllung macht den Zuschauer nervös, zumal die Charaktere darüber
überaus non-chalant hinwegsehen (man versucht es halt "a prochaine
foi").
In
den Träumen und Erinnerungen brechen die großen Katastrophen über
die Protagonisten herein, die sie im realen Leben als "kleine Missverständnisse"
abtun. Sie scheinen nicht groß darunter zu leiden.
Einzig
in den Träumen wird tacheles geredet, werden die Personen entlarvt. Die
Träume enthalten keine Visionen oder Sehnsüchte, sondern illustrieren
die Schattenseite ihres Daseins. Doch anstatt darüber entsetzt zu sein,
nimmt man halt noch einen Dry Martini oder stopft sich einen kalten Braten zwischen
die Kiemen. Man ist ja gerettet, es war nur ein Traum. Aber Bunuel ist gemein:
der Unterschied zwischen Träumen und Realität verschwimmt "zusehends",
manche Träume sind auch Erinnerungen. ... wir können einfach nicht
sicher sein, die nächste Katastrophe lauert schon ...
Wolfgang
Melchior
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem
Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Der
Diskrete Charme der Bourgeoisie
(Le Charme discret de la Bourgeoisie)
Frankreich,
1972
Regie:
Luis Bunuel
Buch: Luis Bunuel / Jean-Claude Carriere
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