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Dorotheas
Rache
"Die Liebe und das Lachen", so sagt Dorotheas
Vater einmal vergnügt, seien Emotionen, "die nur die Menschen kennen".
Die eine Emotion hat der Mann mit den grauen Schläfen, der so ausgelassen
wirkt, wenn er sich auf seinem Schreibtischstuhl dreht, bereits erfolgreich
pervertiert: Das Lachen ist in seiner Welt nur noch ein Produkt, eine Sache,
die industriell hergestellt wird, damit andere Menschen eine Idee vom Lachen
bekommen. Er leitet eine Lachsackfabrik. Hier wird Gelächter und Gegacker
dosiert in kleinen Döschen zum Ausverkauf angeboten. Bar jedweder wahrer
Komik wird auf Knopfdruck gelacht, damit das Leben nicht ganz so trist erscheint.
Dorotheas Vater prostituiert das Lachen.
Um die andere Emotion kümmert sich sein frühreifes
Töchterchen Dorothea. Die siebzehnjährige Gymnasiastin sucht nach
"Liebe", erstellt mit Schulfreunden frivole post-pubertäre Aufklärungsfilmparodien
und lädt uns, die Zuschauer des Films dazu ein, sie auf ihrer Reise zu
begleiten. Auf ihrer Reise wird sie keine Antworten finden, so viel kann man
vorweg nehmen. Dafür wird sie eine Welt kennen lernen, die die Emotion
"Liebe" genauso um ihre Natürlichkeit bringt, wie es ihr Vater
mit dem Lachen anstellt.
Dorothea findet nicht "Liebe", sondern
Eros, in all seinen Abarten. Sie umgibt sich mit Prostituierten, Exhibitionisten,
Dominas und Masochisten. Sie prostituiert sich selber, spuckt dem bettelnden
Sexsklaven ins Gesicht und schmust ohne Tabus sogar mit einem Kind. Weil sie
bereits mit Marsmenschen, Kindern und Narren, so wie es ihr Jesus Christus geheißen
hat, geschlafen hat, bietet sie sich sogar ihrem leiblichen Vater an. Von ihrem
ersten Freier wird sie ausgepeitscht, weil ihn die ehrliche Umarmung des jungen
Mädchens bereits so sehr erregte, dass er in seine Hosen ejakulierte. Dorothea
wird erniedrigt, erniedrigt aber nachher in dem Haus einer befreundeten, lesbischen
Domina die nackten Männer genauso. Sie sucht für sich eine Position
als Frau im Kontext der gesamten Menschheitsgeschichte, doch nur ihre unbedarften
Beatnikfreunde und ihr in sie verliebter Studienrat geben ihr Antworten, wenn
auch kryptische. Als sie ihrem Studienrat klar macht, dass sie seine Liebe nicht
erwidere, erhängt dieser sich.
Peter Fleischmanns geifernde und bitterböse
Satire auf bürgerliche Aufklärungsfilme ist ein Hochgenuss: ein skurriler,
unterhaltender, frivoler, wie auch grässlich ernster, abstoßender
und langweiliger Film. Dorotheas Nacktheit wird in all ihren Facetten abgelichtet.
Sie ist sowohl schön als auch selbstironisch, aber auch hässlich und
dreckig. Fleischmanns Film will nicht erotisieren, er will empören. Daher
darf Dorothea auch einen geistig behinderten Exhibitionisten in einem Kohlekeller
befriedigen. Während des Akts hört eine Mutter das Lustgestöhne
des Kerls und rammt sich zur Befriedigung ihren Kinderwagen rhythmisch in ihren
Unterleib. Früher im Film lässt sich ein Einbeiniger für drei
Wochen an ein Kreuz nageln, um so sexuelle Befriedigung zu erfahren. Fleischmanns
Film ist somit sicherlich ein sensationalistischer, doch sollte man dieses Attribut
einem Film nicht anlasten, der seinen Charakter als pornographisch-parodistischen
im Hinblick auf staatliche Sexpädagogikdokumentationen zu definieren weiß.
"Dorotheas Rache" ist eine absehbare Geschichte.
Ein junges, hübsches Ding, das die Liebe kennen lernt und dazu auf den
Hamburger Kiez geht? Dass das nicht in Wohlgefallen und Weichzeichnerromantik
endet, dürfte jedem klar sein. Doch Fleischmann lässt seine Hauptfigur,
die durch die grandiose Anna Henkel verkörpert wird, zum unmittelbaren,
distanzlosen Freund des Publikums werden. Völlig unbekümmert spricht
sie zu dem Publikum, weiht es in ihre sexuellen Pläne ein, macht uns zu
einem Komplizen in ihrem Treiben. Sie gibt uns sogar eine Rolle, die beste,
die ein Kinopublikum spielen kann: die des Voyeurs. Sie verlangt von uns, ihr
zuzusehen beim Sex mit drei gefräßigen, dicken Mittvierzigern und
bei ihrem ersten Kunden als Dirne. Selbst als sie sich uns vorstellt, zeigt
sie uns kokett ihre blanken Brüste und ihren nackten Po. Als Dorothea am
Ende doch Frieden und Freundschaft und vielleicht sogar Liebe gefunden hat,
stößt sie unseren Voyeurismus aber gekonnt vor den Kopf. Die letzten
Szenen zeigen sie in einer Art maoistischer Hippiekommune, in der mehrere Jungen
und Mädchen splitternackt zusammen mit ihrer Großmutter auf dem Land
hausen. Echtes Lachen und echte Zuneigung zeigt sich in jenen Szenen das erste
Mal in "Dorotheas Rache". Doch der Ausgang bleibt uns verwert, denn
dies sei Dorotheas Zukunft, so sagt sie es uns. Vor dem Filmbild schließt
sich ein roter Vorhang, die Zeit der Sexposse ist zu Ende.
Viele erkannten die stille Poesie,
die wohlwollende Groteske und den harten Realismus, den Fleischmann mit diesem
pornographischen Gedicht auf die Leinwand projizierte. Besonders im Ausland
war die Zahl der Begeisterten groß: Chabrol, Bertolucci, Pasolini applaudierten
dem Film, während die Underground-Ikonen Alejandro Jodorowsky, Fernando
Arrabal und Roland Topor dem Film ihren "Preis der Groupe Panic" stifteten.
"Dorotheas Rache" ist kein aufreizendes Kommerzprodukt, sondern Ausdruck
einer ehrlichen, künstlerischen Auseinandersetzung mit dem medialem
Umgang mit Porno und Sex. Obwohl er seine Zwischentitel in herrliche kitschige
rosa Rahmen verpackt, ist der Film eine Anklage gegen die Kommerzialisierung
und den Ausverkauf der Emotionen, der durch seine bewusst hässlichen und
abartigen Bilder schockt und aufrüttelt. "Anti-Porno" wurde er
einst genannt, und dies kommt dem Film schon sehr nahe. Ein wenig Trash, ein
bisschen Poesie, aber ganz große Filmkunst, die man aber kaum in Worte
fassen kann. Dazu muss man es einfach gesehen haben. Wie Anna Henkel durch Hamburg
lustwandelt, sexuell bedient und frustriert und niedergeschlagen am Ende ihrer
eigenen erotischen Möglichkeiten ankommt. Und dazu spielt Drafi Deutschers
"Mamor, Stein und Eisen bricht".
Björn Last
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Dorotheas
Rache
Deutschland/Frankreich,
1974.
Regie:
Peter Fleischmann. Drehbuch: Peter Fleischmann, Jean-Claude Carrière.
Produzent: Peter Fleischmann, Vera Belmont. Kamera: Jean-Jacques Flori, Klaus
Müller-Laue. Schnitt: Robert Polak, Maria Heidemann-Rock, Ernst Witzel.
Musik: Philippe Sarde. Darsteller: Anna Henkel (Dorothea), Günther Thiedicke
(Dorotheas Vater), Regis Genger (Dorotheas Mutter), Elisabeth Potchanski (Sissi),
Barbara Ossenkopp (Nora), Alexander von Paczensky (Bert), Reinhard Hansel (Wagg).
Farbe. 86 Min.
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