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Dr.
Alemán
Auf
Messers Schneide
Man sieht es auf den ersten Blick: Das
praktische Jahr in Kolumbien soll für den Medizinstudenten Marc (August
Diehl) ein Abenteuer, eine Selbstbestätigung werden. Staunend tritt er
aus der Schalterhalle des Flughafens von Cali, saugt Atmosphäre in sich
auf. An seinem neuen Arbeitsplatz herrschen Hektik und Improvisation, ein paar
ethische Essentials wie der hippokratische Eid dienen als Basis. Auf Marc warten
allerlei Herausforderungen.
Gleich zur Begrüßung soll er,
unerfahren in derlei Dingen, eine Schusswunde versorgen, muss die Wunde weiter
aufschneiden, um ans Projektil zu gelangen. Blut befleckt seine Sneakers. So
überfordert Marc hier agiert, so misstrauisch und herablassend seine einheimischen
Kollegen auf den Dr. Alemán reagieren, die besorgte Mutter zu Hause in
Deutschland kann man mit solchen Eindrücken durchaus in Angst und Schrecken
versetzen. Schließlich hat sich Marc nicht grundlos eine der gefährlichsten
Städte der Welt ausgesucht, in der Drogenkriminalität und rivalisierende
Jugendbanden den Alltag prägen. Der Regisseur und Drehbuchautor Tom Schreiber
("Narren") und der Kameramann Olaf Hirschberg haben sich entschieden,
selbst ganz nah heranzugehen an das Milieu, das ihr Protagonist so faszinierend
fremd erlebt. Sie erzählen aus der Perspektive von Marc, der durch die
Favelas flaniert, Bekanntschaft mit jugendlichen Gangstern schließt oder
sich in die Kioskbesitzerin Wanda (Marleyda Soto) verliebt. Marc sucht unbefangen
den Kontakt zu den Einheimischen und überschreitet dabei die unsichtbare
Grenze, hinter der es ernst wird mit Mord, Drogen, Erpressung. Warnungen seiner
Kollegen, sich von den Bewohnern der Elendsviertel fernzuhalten, schlägt
der Politromantiker in den Wind. Als er ins Blickfeld des Drogenbosses El Juez
(Victor Villegas) gerät, glaubt Marc noch, dass man nur einmal vernünftig
miteinander reden müsse.
Schreiber gelingt eine packende und erstaunlich
kompromisslose Studie über Kontrollverlust, in der interkulturelle Projektionen
und Realitätserfahrungen sich wechselseitig überwältigen. Marc
kennt die Gangsterfilme, aus denen die Jugendlichen in den Favelas ihre Posen
geborgt haben. Doch die Kids sind im Besitz echter Schusswaffen und wollen nicht
nur spielen. Gedreht mit einheimischen Theaterschauspielern und am Ort gecasteten
Laien macht der Film die Atmosphäre latenter und offener Gewalt spürbar,
in der der soziale Alltag durch komplizierte Regeln und kleine Gesten funktioniert.
Üblicherweise hätte ein Typ
wie Marc diese Abenteuer wohl nicht überlebt. Dass er sich am Ende einsam
und desillusioniert seinen Weg zurück freischießen darf, ist vielleicht
die einzige Schwäche dieses mutigen und etwas rätselhaft bleibenden
Films.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der Stuttgarter Zeitung vom 14.08.2008
Dr.
Alemán
Deutschland 2008 - Regie: Tom Schreiber - Darsteller: August Diehl, Marleyda Soto, Victor Villegas, Hernán Méndez, Andrés Parra, David Steven Bravo - Länge: 106 min. - Start: 14.8.2008
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