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Eine
Dame verschwindet
Es
gibt keine Miss Froy – es hat sie nie gegeben
Wer
mehr über den Ort der Handlung von Alfred Hitchcocks ebenso spannendem
wie amüsantem Film „Eine Dame verschwindet“ wissen möchte, der wird
den Zwergstaat „Bandrika“ in Atlas wie Almanach vergeblich suchen: „Bandrika“
gibt es nicht – es hat „Bandrika“ nie gegeben.
Die
Frolleins Froy und Henderson sind auf der Reise von Bandrika, einem imaginären
Balkanstaat, in Richtung England. Als eine Schneewehe den Zug gen Westen an
der Weiterfahrt hindert, beziehen die Reisenden Nachtquartier im einzigen Gasthof
des Örtchens, in dem der Zug seinen außerplanmäßigen Halt
einlegt. Einer bunt zusammengewürfelten Schar von Reisenden, die sich ebenfalls
für eine Nacht in dem hoffnungslos überfüllten Kleinhotel einmietet,
wird sich am nächsten Morgen auch der Musikexperte Gilbert Redman (Michael
Redgrave) hinzugesellen. Zuvor allerdings schlägt der junge Mann sein Nachtlager
in der Etage über den Damen Henderson und Froy auf – deren Nachruhe er
empfindlich stört. Dafür, dass er sich der Überlieferung alter
bandrikischer Volkstänze an die Nachwelt verschrieben hat, hätte Ms.
Henderson ja vielleicht noch Verständnis; für die mit Holzblasinstrumenten
begleitete nächtliche Tanzdarbietung, deren Veranstaltung über ihren
Kopf hinweg Redman im wahrsten Wortsinne beschlossen hat, hat die um ihren Schönheitsschlaf
Gebrachte nicht viel übrig – außer dem Kommentar, in ihren Ohren
klinge das, als spiele jemand mit Elefanten „Die Reise nach Jerusalem“.
Miss
Froys Mitgefühl gilt hingegen einem Bänkelsänger, der sich unter
ihrem Fenster eingefunden hat und dem Redmans ohrenbetäubende Brauchtumspflege
erhebliche Mühe dabei bereitet, sich Gehör zu verschaffen. Eine Henderson'sche
Beschwerde an der Rezeption schafft jedoch alsbald Abhilfe – und Miss Froy kann
endlich dem Ständchen des einsamen Gitarristen auf der Straße lauschen.
Die Melodie scheint es Miss Froy angetan zu haben, und als der nächtliche
Gesang verstummt, bedenkt die gute Seele den Liedvortrag mit einer Handvoll
Münzen – die allerdings auf dem Straßenpflaster landen und dort auch
bleiben. Der Musikus jedenfalls könnte den Obolus allenfalls noch an Fährmann
Charon weiterreichen: der Spielmann nämlich wurde soeben von Schurkenhand
für immer zum Schweigen gebracht.
Wer
hat den glücklosen Gitarrero gemeuchelt – und warum? Das bleibt zunächst
im Dunkel –
und
der mysteriöse Mord ist ja auch nur Auftakt für eine Reihe noch weitaus
mysteriöserer Geschehnisse, die schon beim Licht des nächsten Morgens
ihre Fortsetzung finden: Die Strecke ist inzwischen geräumt, der Zug kann
seine Fahrt wieder aufnehmen – doch gerade, als die von ihren Freundinnen ans
Gleis begleitete Iris Henderson und Miss Froy sich dazu anschicken, den Zug
zu besteigen, ereignet sich ein weiterer schicksalhafter Schlag. Der trifft
diesmal Iris, die um ein Haar von einem herabfallenden Blumentopf zu Tode gebracht
wird –
Zufall?
Kaum, denn auch hier sieht der Zuschauer, was den Figuren des Films verborgen
bleibt: ein Unbekannter hat die Topfpflanze aus dem Gleichgewicht gebracht;
und so stellt sich vielmehr die Frage: Wer trachtet da Miss Henderson nach dem
Leben – und warum ... ?
Der
Zug ist zur Abfahrt bereit, für Erste Hilfe vor Ort keine Zeit, und so
besteigt neben einer halb betäubten Iris Henderson auch eine um deren Wohlergehen
sichtlich besorgte Miss Froy, die Iris' Begleiterinnen zusichert, sich während
der Fahrt um die Freundin zu kümmern. Die dämmert zunächst im
Abteil ein – doch als sie wieder erwacht, sitzt ihr gegenüber zum Glück
ja noch immer ihre neue, mütterliche Freundin Miss Froy. Gemeinsam suchen
die beiden den Speisewagen auf, um sich dort ein wenig zu erfrischen. Als Erfrischungsgetränk
kommt für Miss Froy übrigens nur eines in Frage: eine Tasse von „Herriman's
Kräutertee“, auf dessen belebende Wirkung, so will es zumindest die Werbung
wissen, täglich 3 Millionen Mexikaner vertrauen – und von dem die rührige
Dame stets ein paar Beutelchen im Handgepäck mit sich führt. Das Gewünschte
wird bereitet – und nun, endlich, haben die zwei Damen endlich Zeit und Muße,
sich auch namentlich miteinander bekannt zu machen. Das geschieht nun leider
nicht in aller Ruhe, denn just, als Miss Froy sich Iris vorstellen möchte,
kündet der Zug mit schrillem Pfeifen von einer bevorstehenden Tunneldurchfahrt,
und Miss Froy schreibt ihren Namen kurzerhand mit dem Finger in die Staubschicht
auf einer Fensterscheibe.
Nach
der Rückkehr aus dem Speisewagen ins reguläre Zugabteil schläft
eine noch immer arg mitgenommene Iris erneut ein. Als sie wieder erwacht, sitzt
ihr gegenüber – niemand.
Miss
Froy, das muss Iris zunächst vermuten, kann nur kurz das Anteil verlassen
haben und wird gleich zurückkehren. Als dem nicht so ist und sie sich bei
den anderen Insassen nach dem Verbleib ihrer Freundin erkundigt, zucken die
entschuldigend mit den Schultern: die von ihr Gesuchte, so bescheiden sie Iris,
gebe es nicht. Iris reagiert erst verwirrt, dann zunehmend unwirsch: Miss Froy
kann unmöglich Teil eines Traumes gewesen sein, wie es einer ihrer Mitreisenden
behauptet. Iris macht sich im Zug auf die Suche nach der Freundin. Schließlich
steht der nächste planmäßige Stopp des Zuges nach wie vor aus,
und das lässt nur den einen Schluss zu: Miss Froy muss noch im Zug sein.
Oder ist es wirklich so, wie der zwielichtig erscheinende Dr. Hartz (Paul Lukas)
behauptet: Natürlich existiert eine Miss Froy – allerdings nur als Ausgeburt
einer leichten Gehirnerschütterung, die Iris in Folge des heftigen Blumen-Niederschlages
möglicherweise davongetragen hat ... ? Das hält auch Redman für
plausibel, den eine zunehmend verzweifelt wirkende Iris in der dritten Klasse
des Zuges wiedertrifft.
Aus
der anfänglichen herzlichen Abneigung der beiden wird schnell Sympathie;
und Redman, der schon bald ein Auge auf Iris geworfen hat, will der jungen Frau
zwar gern Glauben schenken – doch spätestens, als Miss Froy angeblich gefunden
ist und man den beiden eine Dame (Josephine Wilson) vorstellt, deren Tweed-Kostüm
so sehr der Beschreibung entspricht, die auch Iris abgeliefert hat, erscheint
auch Redman Miss Froy als eine fixe Idee von Iris. Die grämlich wirkende
Dame heißt zwar nicht Froy, sondern Kummer – aber schließlich ist
selbst Iris schon fast davon überzeugt, dass ihre überreizte Phantasie
ihr ein Trugbild vorgegaukelt hat, in dem die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit
aufgehoben waren und aus dem stechenden Blick einer Miss Kummer die gütigen
Augen einer Miss Froy geworden sind.
Als
Redman und sie dem Speisewagen einen erneuten Besuch abstatten, hat Iris sich
schon fast damit abgefunden: „Es gibt keine Miss Froy – es hat sie nie gegeben.“
Beide
nehmen an genau dem Tisch Platz, an dem Iris zuvor schon einmal saß –
da fällt Iris’ Blick auf die Fensterscheibe; und für einen kurzen
Moment meint sie dort vier Buchstaben erkennen zu können. Dabei kann es
sich jedoch nur um eine Täuschung handeln, denn Sekunden später ist
von dem Namen, den Iris gesehen zu haben meint, keine Spur mehr zu sehen – ganz
so, als hätte es eines weiteren Beweises dafür bedurft, dass Iris
ihren Augen in der Tat nicht trauen kann; denn davon ist nun endlich auch sie
selbst überzeugt.
Doch
gerade in dem Moment, in dem Iris auch Kräutertee samt 3 Millionen darauf
schwörender Mexikaner als Ausgeburt ihrer überreizten Phantasie abzutun
bereit ist – gerade in diesem Moment entleert, am Kopf des Wagens, der Zugkoch
den vollen Abfallkübel aus dem Fenster ... und für einen Augenblick
bleibt außen an der Scheibe etwas hängen, das endlich auch Redman
einen entscheidenden Hinweis darauf liefert, dass seine neue Bekanntschaft sich
ihre Miss Froy nicht lediglich eingeredet hat: eigentlich ist das, was der Fahrtwind
im nächsten Moment mit sich nimmt, ja nur ein harmloser Teebeutel. Allerdings
nicht irgendein x-beliebiger, sondern einer der Marke „Herriman's“.
Für
mich ist „Eine Dame verschwindet“ einer der spannendsten Filme eines Regisseurs,
in dessen umfangreichem Werk spannende Filme nun wahrlich alles andere als Mangelware
sind. Zusammen mit „Der unsichtbare Dritte“ (1959) bekleidet „The Lady Vanishes“
einen der ganz vorderen Plätze unter meinen persönlichen „Hitch“-Favoriten
– und das vielleicht aus gutem Grund, sind doch beide Filme Paradebeispiele
für Variationen eines Themas, das ganz typisch für Hitchcock ist:
das des unschuldig Verdächtigten, dem niemand Glauben schenkt. Wie „Der
unsichtbare Dritte“ bezieht auch „Eine Dame verschwindet“ seine Spannung vornehmlich
aus der Tatsache, dass das Publikum stets ein bisschen mehr weiß als die
Figuren, die im Mittelpunkt der Handlung stehen.
Wir,
die Zuschauer, wissen es ja ganz genau: Es hat eine Miss Froy gegeben - und
sie muss noch irgendwo im Zug sein. Und so bangen wir umso mehr um eine Heldin,
der man einzureden versucht, sie könne ihren Sinnen nicht trauen. „The
wheel spins“ lautet der Titel der Vorlage, nach der Hitchcocks Film entstand
– und mit jeder Drehung der Räder des Zuges, in dem nach und nach eine
ungeheuerliche Verschwörungstheorie aufgedeckt wird, zieht Hitchcock auch
die Spannungsschraube eine Drehung mehr an. Während des erstes Drittels
seiner 97 Minuten Lauflänge mutet „Eine Dame verschwindet“ noch wie eine
Komödie an – doch mit jedem mysteriösen Ereignis wächst beim
Zuschauer das Gefühl der Beklemmung.
F
a z i t :
Wer
die „Miss Marple“-Filme mit Margaret Rutherford mag, dem dürfte auch „Eine
Dame verschwindet“ mit seinen skurrilen Figuren und seiner unwahrscheinlichen,
aber spannenden Handlung gefallen. Wie auch viele der Agatha Christie-Verfilmungen
arbeitet „Eine Dame verschwindet“ mit dem sog. „explained mystery“ – will sagen:
die Auflösung der unheimlichen Ereignisse erfolgt in der Rückschau,
und das wirklich glückliche Ende findet „Eine Dame verschwindet“ tatsächlich
erst in der allerletzten Minute des Films. Gegenüber Filmen wie „Mord im
Orient-Express“ oder „Tod auf dem Nil“, in denen das mitunter unfreiwillig komisch
wirkt, profitiert „Eine Dame verschwindet“ jedoch von einem vergleichsweise
einfach „gestrickten“ Geheimnis, dessen Fäden sich, akzeptiert man nur
eine relativ unwahrscheinliche Prämisse, recht einfach wieder entwirren
lassen.
„Gemeinwesen“
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei: www.ciao.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Eine
Dame verschwindet
THE
LADY VANISHES
England
- 1938 - 97 min. - schwarzweiß
Literaturverfilmung, Spionagefilm,
Thriller, Komödie
FSK:
ab 16; feiertagsfrei
Prädikat:
besonders wertvoll
Verleih:
Neue Filmkunst
Erstaufführung:
1.10.1971/3.1.1972 ZDF/31.1.1981 DFF 1
Produktion:
Edward Black
Regie:
Alfred Hitchcock
Buch:
Frank Launder, Sidney Gilliat, Alma Reville
Vorlage:
nach dem Roman "The Wheel Spins" von Ethel Lina White
Kamera:
Jack Cox
Musik:
Louis Levy
Schnitt:
Alfred Roome, R.E. Dearing
Darsteller:
Margaret
Lockwood (Iris Henderson)
Michael
Redgrave (Gilbert Redman)
May
Whitty (Miss Froy)
Paul
Lukas (Dr. Hartz)
Basil
Radford (Charters)
Cecil
Parker (Eric Todhunter)
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