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Eine
ganze Nacht
Reigen,
ohne Worte
Eine
nicht mehr ganz junge Frau in ihrem Zimmer, sie geht hin und her, setzt sich,
steht wieder auf, überlegt. Draußen ist es dunkel, die Fenster sind
weit offen, eine Sommernacht. Von irgendwo kommen fremde Klänge herein,
dazu Geräusche von Autos. Die Frau nimmt das Telefon, wählt, eine
männliche Stimme meldet sich, sie legt auf. Dann geht sie, und ihr Kleid
ist ganz tief ausgeschnitten. Ein erstes Lächeln auf den Lippen des Zuschauers,
als die Frau in diesem Zustand an mindestens fünfzig gierigen, schmutzigen,
gewaltbereiten jungen Männern entlanggeht; fast ist man enttäuscht,
dass nichts passiert. Das Taxi ist auch schon da. Ankunft vor einem Haus. Die
Blicke der Frau nach oben zu einem beleuchteten Zimmer, wo ein Mann wie ein
Tiger auf und ab geht. Vor einer Bar sind zwei Menschen glücklich, dass
es sie gibt. In der Bar, nebeneinander und doch voneinander getrennt, sitzen
ein Mann und eine Frau, die noch nicht so weit sind. Tastende Blicke gehen meist
ins Leere. Dann steht der Mann auf, legt das Geld auf den Tisch, an dem er sich
zugleich vorbeizwängt, dicht am Tisch der Nachbarin entlang, und geht,
sie erhebt sich auch, das war’s dann wohl, und dann ein kleiner brutaler Schnitt,
die beiden liegen sich in den Armen, beginnen zu der italienischen Musik zu
tanzen, wie überglückliche Tölpel. Ein später gezeigtes
Noch-nicht-Paar an der gleichen Stelle ist nicht so romantisch, die Sexualnot
ist zu groß.
Türen
öffnen sich, Liebhaber werden begeistert hineingelassen oder auf später
vertröstet. Ein Mann darf nicht mit in die Wohnung seiner Begleiterin,
man weiß nicht, was bisher geschah, wie gut sie sich kennen, er drängt
nicht, bleibt aber auf dem Platz vor der Wohnung stehen, nicht nur zehn Minuten
oder zwei Stunden, sondern die ganze Nacht, und erst als es hell geworden ist,
geht er entschiedenen Schritts weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Man sieht
Männern und Frauen zu, die nicht schlafen können, weil es zu heiß
ist oder weil sie an jemand anderes denken. Eine schon etwas ältere Dame,
ganz in weiß, wirft sich im Hotel müde, vielleicht auch verzweifelt,
weil ihr Liebster nicht kam, aufs Bett und schließt doch etwas später
die Tür zu ihrer Wohnung auf, wo ihr Mann friedlich schläft und auch
den Wecker, der die Frau gleich aufstehen lässt, nachdem sie sich hingelegt
hat, nicht hört. In diesem Film wird nicht viel gesprochen, und das Wenige
kennt man aus dem Französisch-Unterricht: Ah, da bist du; komm herein;
ich habe Angst… Manche Gesichter sieht man nur einmal, Ausgesetzte der Liebe,
andere begleitet man ein Stück, ohne dass sich der Wunsch nach einer kompletten
Geschichte bildet, die man ganz gerne vorgeführt bekommen möchte.
Chantal
Akerman fängt das Beiläufige all dieser Begegnungen ein, und doch
nimmt das serielle Prinzip ihnen nichts von ihrer Einmaligkeit: Jede Begegnung
findet hier gewissermaßen nur einmal statt, erfahrenes Glück und
Unglück lassen sich nicht auf später verschieben. Der Mechanismus
der Wiederholung von Situationen wirft hier keine komischen Effekte ab, manchmal
ist Humor im Spiel wie in der Anfangsszene. Ganz zum Schluss sieht man zwei
Menschen, sie liegen auf einem Bett, stehen sie gleich auf, weil die Nacht vorbei
ist, oder fängt sie jetzt erst richtig an? Den Abspann begleitet ein beeindruckender
Ton – einer Geige? Klingt bedrohlich. Der Tag.
Dieter
Wenk
(12.04)
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Eine
ganze Nacht
TOUTE
UNE NUIT
Toute
une nuit
Belgien
/ Frankreich - 1981/82 - 90 min. - Verleih: endfilm - Erstaufführung: 1.4.1983
- Fd-Nummer: 24016 - Produktionsfirma: Paradise/Avidia
Regie:
Chantal Akerman
Buch:
Chantal Akerman
Kamera:
Caroline Champetier
Schnitt:
Luc Barnier
Darsteller:
Aurore
Clément
Pierre
Forget
Michel
Lussan
Isabelle
Pousseur
Simon
Zaleski
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