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Eine ungenaue Erinnerung an eine Urkunde
Ilona Bruver nimmt als Heimat-Vorwurf
die Probstei, eine Landschaft bei Kiel. Die Personen und Bilder zwischen Schönberg
und Schönberger Strand werden nicht verflüssigt, sondern sind festes,
sauberes, griffiges Konstruktionsmaterial mit denen unermüdlich eine eigene
Geschichte gebaut, abgebaut, umgebaut und niedergelegt wird. Die Heimat ist
in Ilona Bruvers Film als Gedankenarbeit erhalten. Mit immer neuen Ansätzen
bemühen sich die Denkenden, durchaus vergebens, eine Verbindung zur Vergangenheit
zu finden. Derweil fährt die Museumslok mit stets wechselnden Fahrgästen
hin und her; welche Orte sie verbindet, läßt sich dem Film nicht
entnehmen. Nur einmal gibt es eine Ausnahme. Eine eingeschnittene Wochenschausequenz
zeigt die verbogenen Schienen einer Bahnlinie, über die eine Flutkatastrophe
hinweggegangen ist. - Monologe, Erinnerungen, Reflexionen zeugen vom Werk der
Gedankenarbeiter. Im Führerhaus der Lok steht darum nicht der Lokführer,
sondern der Hamburger Avantgardekünstler Hannes Hatje, und er reflektiert
den Fahrmechanismus: „Es ist sieben Uhr. Die V 20. Sie muß natürlich
stillstehen, die Maschine, und der Kraftfluß vom Motor über das Getriebe
muß vollkommen unterbrochen sein. Dann legt man ein. Je nachdem, ob man
Schnellfahren oder Langsamfahren wählt, legt man entweder den Streckengang
oder den Rangiergang ein, letzteren benötigt man für schwere Züge
und kurze Strecken. Dann wählt man die Fahrtrichtung, in die man fahren
will, entweder voraus oder zurück. Hat der Lokführer das Abfahrsignal,
setzt er das Handrad in Bewegung. Jetzt kann die Fahrt beginnen."
Ilona Bruver nimmt das Gedicht
von der Heimat-Suche nicht feierlich. Sie führt zum Schluß den richtigen
Arbeiter ein, einen Zugführer, der realistisch das Filmwerk beurteilt:
„Die sind im Großen und Ganzen ganz gut, die Aufnahmen. Es sind nur einige
leichte Fehler drin. Die unruhige Hand des Lokführers, was auf der normalen
Strecke nicht vorkommt. Da wird nur einmal die Maschine eingelegt, und da bleibt
sie auch, sodaß man nicht immer mit dem Radhebel zu spielen braucht. Ansonsten
habe ich keine Bedenken. Das war soweit ganz brauchbar".
Die Ausbrüche, nicht ohne
Witz, führen jedoch immer wieder zu den Großaufnahmen zurück,
die das Wesentliche zeigen, nämlich den Kopf, hinter dem es, optisch notgedrungenerweise
nicht sehr ergiebig, heftig arbeitet: „An wen hat er gedacht als die Tür
zuknallte, an eine Frau, an ein Zuhause, an eine Arbeit hat er gedacht, die
ihm aus den Händen fiel und die immer wieder zurückkehrte und ihn
daran erinnerte, daß es sie gab".
EINE UNGENAUE ERINNERUNG AN EINE
URKUNDE ist unzugänglicher als ANNAS LIED von Ingrid Fischer („epd Film" 6/85). Er hat den schwierigeren
Teil übernommen, indem er sich die Arbeit des Zugänglichmachens zum
Gegenstand macht. Der Film lebt vom Wort, dem die präzise und besonnene
Kamera den Raum gibt, sich zu entfalten. (Die fragmentarischen Inszenierungen
sind nicht eben die Stärke des Films). Die Sätze gelten weniger der
Heimat, als dem stets neu unternommenen Versuch, sich ihr zu nähern. Sie
verschließt sich im gleichen Maße, wie sie sich öffnet. Und
doch ist EINE UNGENAUE ERINNERUNG AN EINE URKUNDE kein Film über das Scheitern.
Er ist fern von jeder Tragik. Denn die Gleichzeitigkeit von Annäherung
und Entfernung ist ein Dauerprozeß, der seine eigene Realität hat.
Völlig zwecklos, sich darüber aufzuregen. Im Gegenteil. Die genaue
Dokumentation des ungenauen Erinnerungsprozesses lädt zu immer neuen Fragen
ein, die zu den schönsten Widersprüchen führen und den Film -
gedanklich - nach allen Seiten öffnen. Sie: „Die Mutter arbeitet den ganzen
Tag. Sie ist lustig". - Er: „Ich bin schon mal hier gewesen. Diese Gegend
kenne ich nicht". Ilona Bruver sagt uns nicht, wo's lang geht. Ihr Wort-Bild-Film
ist durchaus affirmativ. Was ich nicht abwertend meine, sondern so verstanden
wissen möchte, wie das Affirmative in der modernen Philosophie gedacht
wird. Es läßt der Beschreibung und Registrierung des (noch) Vorhandenen
Raum. Wer gleich mit der aktuellen Bewertung beginnt, - erfindet nicht
„die Heimat jener seltsam verschwiegenen Dinge, die fremd umherstehen unter
den Dingen des täglichen Gebrauchs" (Ilona Bruver). EINE UNGENAUE
ERINNERUNG AN EINE URKUNDE ist ein Film des Möglichen und des Vielleicht.
Er schließt den Zweifel ein, ob die Welt, des Aspekts des jeweils Modernen entkleidet,
zur Veränderung in der Lage ist. „Vielleicht war es schon immer so. Es
liegt kein Grund vor zu glauben, daß es jemals anders war." - Das
„Vielleicht" ist ein Ärgernis, zweifellos. Oder nicht? Es zwingt in
Ilona Bruvers poetisch-philosophischem Film zum Hinhören und zum emsigen
Bestreben, immer neue Ausgangspunkte zu finden, sich das einst heimische Terrain
zugänglich zu machen. Möglicherweise haben damals schon Neptun und
Undine die richtige Antwort gefunden? Der Film zögert nicht, uns das Gespräch
vorzustellen.
Der Film liegt eigentümlich
quer zu den bekannten Sehweisen. Er könnte auch ein Buch sein. Gewiß
ein ebenso störrisches. Mir scheint es, daß Ilona Bruver, die aus
Riga stammt, seit mehr als einem Jahrzehnt im Medium Film professionell ist,
das Medium selbst in Frage stellt. Das ist konsequent und mit Sicherheit ein
weiteres Ärgernis. Eine, die Bescheid weiß, gibt keinen Bescheid.
Da muß allen, die im Filmwesen amtieren, das Blut in den Kopf steigen.
Ilona Bruver hat die letzte Frage in ihrem Film selbstredend bedacht: „Er hat
nie getan, als ob er Bescheid weiß. Das stimmt nicht ganz. Er hat nur
damit angefangen. Er wollte ein Buch schreiben. Er wollte es richtig machen".
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text
ist zuerst erschienen in: epd Film 7/85
Ungenaue Erinnerung an eine Urkunde
Bundesrepublik Deutschland 1984/8S. R, B und Sch: Ilona Bruver.
K: Uwe Reischke. M.Bach, Tschaikowski, Beethoven, Vivaldi, Cardel, Albers. T:
Jörg Busch, Michael Schmiedl, Detlev Lehmann. Pg: Rigahh Filmproduktion,
Filmhaus Hamburg. Gl: Alfred Schrandt. V: Ilona Bruver, Filmhaus Hamburg, L:
90 Min., s/w und Farbe, 16 mm. UA: Berlinale 1985. St: Sommer 1985. D: Annette
von Stürmet; Hannes Hatje, Katharina Brauren.
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