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Ein
fliehendes Pferd
Ein unverhofftes Wiedersehen,
eine Art Klassentreffen ohne vorherige Einladung, im Flair des sommerlichen
Bodensees. Doch bei Klassentreffen gilt nicht ohne Grund die Regel: Möglichst
ohne Partner anreisen, damit Selbstentwurf, Fremdwahrnehmung und Persönlichkeitsentwicklung
nicht kollidieren. Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) erzählt
von der zufälligen Urlaubsbegegnung zweier ehemaliger Schulkameraden und
Studienkollegen, die sich „fast auf den Tag genau 23 Jahre“ aus den Augen verloren
haben, und ihrer Partnerinnen. Eine Viereckskonstellation über Midlife-Crisis,
Lebenslügen und unterschiedliche Lebensentwürfe, die 1978 durchaus
soziologisch verdichtet waren. Hier der Studienrat Helmut Halm, ein verzagter
Intellektueller alten Schlags, der sich Kierkegaard-Lektüre mit in den
Urlaub nimmt und die Zuverlässigkeit des Gewohnten schätzt, ein Misanthrop,
der sich als passiver Beobachter ohne Mitteilungsbedürfnis versteht; dort
der sportive, selbstbewusste und erfolgreiche Lebemann und Autor Klaus Buch,
ein Typus, den man einige Jahre später „Yuppie“ nennen wird.
Peter Beauvais hat „Ein fliehendes
Pferd“ bereits 1985 fürs Fernsehen verfilmt, mit Vadim Glowna, Rosel Zech,
Dietmar Mues und Marita Marshall in den Hauptrollen. Die Komplexität und
motivische Tiefe von Walsers Novelle konnte er nicht ausschöpfen, lebt
diese doch von einer extrem dicht gearbeiteten Folge aussagekräftiger innerer
Monologe des Protagonisten, die ohne Off-Stimme filmisch nur schwer zu adaptieren
sind.
Rainer Kaufmann hat in seiner
Neuverfilmung die zentrale Rolle des Gegensatzes zweier Lebensstile abgemildert;
wenige pointierte Szenen am Badestrand reichen ihm, um die zur Routine erstarrte
Beziehung zwischen Helmut und seiner Frau Sabine zu charakterisieren. In diese
Vertrautheit des Immergleichen platzt Klaus Buch (gewohnt spielfreudig: Ulrich
Tukur), der etwas weniger sportiv als in der Buchvorlage ausfällt. Auch
Buch ist in Begleitung, an seiner Seite ist die attraktive Helene, genannt Hel.
Sie ist wohl auch der Grund, warum der von Buchs plumpen Vertraulichkeiten und
Obszönitäten angewiderte Helmut die Urlaubsbegegnung überhaupt
erträgt. Ulrich Noethen ist für die Rolle des genervt Überforderten,
zu keiner klaren Haltung Findenden und dann auch überraschend Schwachen
eine Idealbesetzung. Er kann den peinlichen und peinigenden Anekdoten Buchs,
von Walser treffend auf den Begriff des „Kriegskameradenphänomens“ gebracht,
kaum etwas entgegensetzen, weil ihm klar ist, dass mit der aufgekratzten „Wiedererweckung
des Gewesenen“ (Walser) eine Grenze der Intimität überschritten wird.
Doch Buch erhält Unterstützung
ausgerechnet von Sabine, die in der unerwarteten Begegnung ihre Chance zum Ausbruch
aus der alltäglichen Routine erkennt. Katja Riemann spielt die Rolle der
zur Vitalität drängenden Ehefrau, die freundlich, aber bestimmt ihre
Interessen durchsetzt und dabei vor Spitzen gegen ihren Ehemann zurückschreckt,
mit einer vergleichbaren Verve wie sie ihre Rolle in Oskar Roehlers „Agnes
und seine Brüder“ (fd 36730) ausfüllte. Sabine kündigt Helmut kurzerhand
die eingeübte Solidarität der Geisterverwandtschaft auf und findet
plötzlich Buchs Vorschläge zu Segeltörns und Ausflügen „ganz
vernünftig“. Helmut, dessen frühmorgendliches Hobby das Vogelbeobachten
am Seeufer ist, sieht sich mit Erzählungen konfrontiert, die er nicht hören,
und mit Dingen, die er nicht tun will. Dann spielt auch die Erotik noch eine
Rolle, es kommt kreuzweise zu Annäherungen.
Kaufmann inszeniert diese Viererkonstellation
als lichte Sommerkomödie mit dunklen Einschüssen und wagt kommentierend
manch bösen Blick auf Helmut Halm. Er setzt auf ironische Distanz, will
die unterhaltsame Komödie, nicht die unbehaglichere Variante. Das gelingt
ihm mustergültig: „Ein fliehendes Pferd“ ist gediegenes Schauspielerkino
mit hohem Unterhaltungswert. Doch der Preis dafür ist hoch. Insbesondere
die Prägnanz von Helmuts Figurenzeichnung fällt gegenüber Walsers
Novelle deutlich ab: Kaufmanns Helmut erscheint als zumeist schlecht gelaunter
Muffel, nicht aber als der durchaus reflektierte Menschenfeind und Eigenbrötler
der Novelle. Helmut ist nicht nur ein Beobachter, sondern auch ein Selbst-Beobachter.
Als ihm zunehmend der Weg ins
Freie verstellt scheint – in der Novelle verdoppelt ein nicht abgeschickter
Brief an Klaus Buch das titelgebende Abenteuer mit dem ausgebrochenen Pferd
–, wächst seine Aggression gegen den Störenfried. Durch sein davon
unterfüttertes Nicht-Handeln im entscheidenden Moment ist er an der Katastrophe
beteiligt, als das Segelboot im Sturm kentert und Buch in den Wellen verschwindet.
Für Helmut ist der Unfall eine Befreiung, zugleich aber hat er bei seinem
„Fluchtversuch“ Schuld auf sich geladen. Die Frauen wollen wissen, was geschehen
ist. Es ist höchste Zeit für offene Worte. Kaufmann kann sich auf
seine Darsteller verlassen, die auch die letzte Volte der Geschichte meisterlich,
eher durch Blicke und Gesten als durch Worte bewältigen. Es waren in mancher
Hinsicht sicherlich die aufregendsten Ferien der Halms seit vielen Jahren, aber
der kleinen Flucht nach Montpellier, die Walser Helmut und Sabine am Schluss
gönnt, verweigert sich Kaufmann. Einige Tage Herausforderung fürs
Eingefahrene müssen genügen. Vieles wurde thematisiert bei der Wiederkehr
des Verdrängten, geändert hat sich (noch) nichts.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst
Ein
fliehendes Pferd
Deutschland
2007 - Regie: Rainer Kaufmann - Darsteller: Ulrich Tukur, Katja Riemann, Ulrich
Noethen, Petra Schmidt-Schaller - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab
12 - Länge: 97 min. - Start: 20.9.2007
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