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Ein
Kind war Zeuge
Ein
Kind war Zeuge
erzählt eine Geschichte, wie sie der heutige Kinogänger oder Filmfreund
so ähnlich auch schon aus Clint Eastwoods Perfect
World (USA
1993) kennt und die für diesen vielleicht sogar als Blaupause diente: In
den Jahren kurz nach dem 2. Weltkrieg wird in England ein junger Mörder
aus Leidenschaft, Chris Loyd, unmittelbar nach seiner Tat von einem kleinen
Jungen, Robbie, überrascht. Kurzentschlossen nimmt Chris den Kleinen unter
seine Obhut; zunächst noch, weil er ein Zeuge sein könnte, später
dann, weil er ihm von Nutzen ist, und schließlich, weil sich zwischen
beiden eine zärtliche Freundschaft entwickelt, die mit Vater-Sohn-Beziehung
nur unscharf umschrieben wäre. Begünstigt wird diese Entwicklung dadurch,
dass auch der Junge - wie wir selbst nur Stück für Stück erfahren
- kein Interesse an einer Rückkehr nach Hause hat, weil er zuvor beinahe
das Haus der Stiefeltern abgefackelt hat und nun mehr als nur die Schläge,
die ihm ohnehin Alltag sind, fürchtet. Die Flucht der beiden - aus der
Stadt hinaus, dann querfeldein - abenteuerlich, entwickelt aber - da die Ordnungskräfte
eine tragische Geiselnahme wähnen und die Presse ins gleiche Horn bläst
- zunehmend dramatischen Charakter.
Für
den kriminalistischen Aspekt der Handlung interessiert sich der Film kaum. Deutlich
wird dies gleich zu Beginn, wenn Robbie in den zerbombten Keller platzt und
Chris sich von der noch warmen Leiche erhebt. Die sehen wir jedoch erst nach
dem lauten Dialog, der dieser plötzlichen Begegnung folgt, und nachdem
beide den Schauplatz verlassen haben: Dann erst senkt sich die Kamera und erschließt
uns so den Rest des Raums, an dessen Boden wir das Opfer der Tat dann sehen
können, um uns so im Nachhinein über das Ausmaß der Begegnung
erst bewusst zu werden. Die Hintergründe des Verbrechens werden allenfalls
bruchstückhaft in Dialogen und Andeutungen erläutert: Vermutlich handelte
es sich bei dem Opfer um einen finanziell besser situierten Liebhaber von Chris'
Ehefrau, die die langen Abwesenheiten ihres Gatten - ein junger Seefahrer -
offensichtlich nicht ungenutzt verstreichen ließ. Auch die Lebensumstände
des Kleinen bleiben ähnlich nebulös und werden - nach einer ungemein
flott inszenierten und dynamisch geschnittenen Exposition, die uns ohne Umschweife
in diese besondere Situation wirft - nur Stück für Stück erläutert:
Striemen am Rücken scheinen - entgegen den Beteuerungen der Eltern gegenüber
der Polizei - von einem gewaltsamen Zuhause zu erzählen, das genuin verschreckte
und zurückhaltende Auftreten des Kleinen, der in Chris offenbar nicht nur
einen Freund, sondern auch in den kargen Umständen der Flucht die Option
auf ein Abenteuer und ein besseres Leben zu sehen scheint, tut sein übriges.
Der Umgang mit den filmischen Mittel gleicht sich diesem Entblättern der
eigentlichen Umstände an: Nach dem turbulenten Auftakt ruht sich der Film
beinahe schon aus und nimmt sich viel Zeit für die Besonderheiten seiner
personellen Konstellation.
Über
die moralische Dimension des Kapitalverbrechens finden im folgenden kaum noch
Überlegungen statt, im Gegenteil: Die Ermittlungen gegen Chris, die zu
Beginn noch häufig eingeschnitten werden, nehmen im Verlauf zunehmend weniger
Raum für sich ein und bilden besonders im letzten Drittel nurmehr die das
Geschehen bestimmende Kulisse, vor der sich nicht nur eine Freundschaft entwickelt,
sondern auch eine melodramatische Syntax ausbuchstabiert: Im wesentlichen ist
Ein
Kind war Zeuge
also schon Melodram, das die Motorik der Umstände, aus denen der Einzelne
auszubrechen kaum in der Lage ist, Stück für Stück über
den bloßen Genrekontext hinaus glaubhaft nachzeichnet. Bemerkbar macht
sich dieser soziale Kommentar auch an der Thematisierung des Krieges und der
diesem folgenden Jahre der Depression, indem er zerbombte Bauten und ähnliche
Beschädigungen bewusst in seine äußere Erscheinung einbaut und
für seinen grundlegend melancholischen Tenor zu verwenden weiß. Gerade
hierin liegt, neben der sensiblen und gelungenen ästhetischen Gestaltung,
die Qualität des Films, der sich somit - vor allem auch aufgrund der Schilderung
des provinziellen Lebens in der zweiten Hälfte seiner Spielzeit - weitläufig
im Dunstkreis des Neorealismus verorten lässt, der sich nur wenige Jahre
zuvor in Italien seiner Genese erfreuen konnte.
Die
filmische Gestaltung ist zudem gelungen: Die Spielorte sind mit Bedacht und
dem Wissen um ihre atmosphärische Wirkung ausgesucht und vom Zusammenspiel
von Kamera- und Ausleuchtungsarbeit gewinnbringend im Film repräsentiert.
Vor allem in den Szenen, die sich auf den Genreaspekt der Geschichte konzentrieren,
sind die ästhetischen Vorläufer der Filmgeschichte, auf die sich hier
berufen wird, offensichtlich: Nächtliche Treppenhäuser und die Schatten
darin künden vom deutschen Expressionismus der frühen Zwanziger, der
orientierungslose junge Mann, der sich hier auf der Flucht befindet und eigentlich
doch der Gute zu sein scheint, wie überhaupt die Perspektivverschiebung
der Erzählung, wirkt vom Film Noir der Vierziger beeinflusst, dessen Äußerlichkeiten
zudem in die ästhetische Gestaltung eingeflossen sind. Die handwerklich
perfekte und sichtlich besonnen durchgeführte Gestaltung nimmt diese Verfahrensweisen
geschickt auf, um einen ästhetisch wie atmosphärisch stimmigen Film
zu entwerfen.
Ein
Kind war Zeuge
geht nicht unbedingt der Ruf eines großen Klassikers voraus, obwohl der
Regisseur für seine Leistung auf dem Filmfestival Locarno honoriert wurde.
Bis zu dieser Veröffentlichung war mir der Titel beispielsweise vollkommen
unbekannt. Dass er sich nun dieser Tage einer Veröffentlichung auf DVD
in der "Great Movie Classics"-Collection neben den dort bislang erschienenen
Dickens-Filmen von David Lean erfreuen kann, ist wiederum für den Zuschauer
höchsterfreulich, der nun die Gelegenheit hat, diesen schönen und
spannenden Film in adäquater Form wiederzuentdecken.
Eine
DVD erschien dieser Tage im Hause Koch Media. Diese zeichnet sich wie gewohnt
durch eine sehr gute Bild- und Tonqualität aus, auch wenn hie und da ein
leichtes Rauschen im Bild festzustellen ist. Die Extras sind auf der DVD recht
schmal bemessen, dafür liegt auf einer Extra-CD "Reclams Elektronisches
Filmlexikon" als Bonus bei.
Thomas
Groh
Dieser
Text ist zuerst erschienen im:
Ein
Kind war Zeuge
(Hunted)
Großbritannien,
1952
Regie:
Charles Crichton; Drehbuch: Michael McCarthy (Geschichte), Jack Whittingham;
Kamera: Eric Cross; Schnitt: Gordon Hales, Geoffrey Muller; Musik: Hubert Clifford;
Darsteller: Dirk Bogarde, Jon Whiteley, Kay Walsh, Elizabeth Sellars, Geoffrey
Keen, Frederick Piper, Jane Aird, u.a.; Länge: ca. 82 Minuten
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