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Ein
Mann und eine Frau
Ein
langer Augenblick der Zartheit
Claude
Lelouch ist so etwas wie ein hoffnungsloser Romantiker. „Un homme et une femme“
ist ein Film, den man im Vergleich zu damaligen und heutigen Romanzen aus Hollywood
als unromantisch bezeichnen müsste. Es geht nicht um Anne und Jean-Louis
sondern, wie der Titel besagt, um einen Mann und eine Frau. Natürlich geht
es um Anne und Jean-Louis, aber ihre Charaktere sind derart minimalistisch ausgelegt,
dass es auch um, sagen wir, Claudine und Jacques gehen könnte. Der Film
hat zudem kaum so etwas wie Handlung, erzählt keine Geschichte im üblichen
Sinn. Das klingt paradox: Ein Romantiker dreht einen unromantischen Film? Nicht
ganz.
„Ein
Mann und eine Frau“ reduziert die romantische Beziehung zwischen zwei Menschen
auf das wesentliche, abstrahiert völlig von den „Zutaten“ und Beigaben,
den Unterfütterungen der romantischen Komödie respektive der romantischen
Tragödie, wie wir sie alle zur Genüge kennen. Anne (Anouk Aimée)
ist irgendeine Frau, Jean-Louis (Jean-Louis Trintignant) irgendein Mann, beide
haben ein Kind, Anne ihre Tochter Françoise (Souad Amidou), Jean-Louis
seinen Sohn Antoine (Antoine Sire), die beide zufällig das gleiche Internat
besuchen. Bei einem Besuch der Kinder verpasst Anne den Zug zurück nach
Paris, und die Rektorin bittet Jean-Louis, Anne in seinem Auto mitzunehmen.
Es
regnet in Strömen, es ist dunkel. Anne und Jean-Louis sitzen zunächst
schweigend nebeneinander. Beide waren verheiratet, beider Ehegatten sind tot.
Anne erzählt von ihrem Mann, Pierre (Pierre Barouh), einem Sensationsdarsteller
beim Film, der bei Drehaufnahmen durch eine Explosion ums Leben kam. Jean-Louis
erzählt, er habe einen Beruf, der sehr viel Geld einbringe. Lelouch zeigt
in Rückblenden Ausschnitte aus dem Leben der beiden Paare, das, was sie
sich gerade erzählen. Diese Rückblenden sind in grellen Farben, vor
allem Gelb- und Rottönen gedreht und wirken wie Urlaubsaufnahmen. Jean-Louis
ist Test- und Rennfahrer. Lelouch zeigt mehrmals in langen Einstellungen Bilder
von Testfahrten und von Autorennen in Monte Carlo; sie wiederum wirken wie Sportberichte
und sind meist in Schwarz-Weiß gehalten.
Jean-Louis
möchte Anne wiedersehen, Anne, diese geheimnisvolle Frau, die etwas zu
verbergen scheint. Aber auch Jean-Louis erzählt erst viel später,
dass seine Frau Valérie (Valérie Lagrange) nach einem schweren
Renn-Unfall von Jean-Louis einen derart gravierenden Nervenzusammenbruch erlitten
hatte, dass sie Selbstmord beging.
Die
beiden gehen mit den Kindern essen, unternehmen lange Strandspaziergänge,
lieben sich das erste Mal in einem Hotelzimmer – bis Anne sich von Jean-Louis
zurückzieht. Sie liebt ihren Mann noch immer, sagt sie. Und Jean-Louis
schließt daraus, ihr Mann würde noch leben.
Liebeslieder
von Baden Powell, der berühmt gewordene Titelsong von Francis Lai – fern
jeglicher Rührseligkeit – begleiten diesen 100 Minuten dauernden Augenblick
der Nähe, der zeitweiligen Distanz und des Happyends, unterbrochen nur
von den Rückblenden und den Rennszenen. Die Umgebung, in der sich Anne
und Jean-Louis bewegen, ist trist, kühl, selbst die Spaziergänge am
Meer wirken in den Farben des Films eher matt, das einzige was glänzt,
sind die Augen Annes und Jean-Louis Blick, das Lächeln, das sie sich zuwerfen.
Vorsichtig, behutsam kommen sich beide näher, eine Handbewegung, ein kurzer
Blick, ein Lächeln, eine Geste.
In
der Schlusseinstellung umkreist die Kamera – von Lelouch zumeist selbst geführt
– die sich Umarmenden auf einem Bahnhof in Paris. Es ist diese Ankunft, dieses
Ankommen, sie mit dem Zug und er mit dem Auto, ihr nachfahrend, um sie abzuholen
und auf ihrer beider Liebe zu insistieren, diese Absage an die Nekrophilie,
die den entscheidenden und völlig überzeugenden Schlusspunkt dieser
langen Momentaufnahme setzt.
Lelouch
ist im wahrsten Sinn des Wortes anti-modern, wenn man dies auf den gängigen
Liebesfilm und die damit verbreiteten Klischees bezieht. „Un homme et une femme“
enthält keine Klischees und ist doch romantischer als jede Hollywood-Romanze.
Den Film beherrscht eine unproblematische Schwerelosigkeit, ein gut 100 Minuten
dauerndes angenehmes Gefühl, und trotzdem ist er nicht problemlos. Lelouch
schafft sozusagen Urformen von Mann und Frau, Archetypen, in denen jeder Betrachter
ein bisschen sich selbst wiederfinden kann, ohne nicht zugleich zwei konkrete
Menschen, eben Anne und Jean-Louis, zu zeigen, die sich einem konkreten Augenblick
in einer konkreten Umgebung hingeben.
Wir
haben uns mehr oder weniger alle an eine bestimmte Form der romantischen Komödie
oder Tragödie gewöhnt, das heißt vor allem an ihre unrealistischen,
verträumten und zum Teil albernen Zutaten, und vor allem an ihre immer
wieder reproduzierten Handlungsstränge. Aus diesem Grund ist ein in dieser
Hinsicht schnörkelloser Film wie „Ein Mann und eine Frau“ ungewohnt, gewöhnungsbedürftig.
Man muss sich auf ihn einlassen können, in ihn eintauchen können,
um seine Widersprüche und Kontraste, seine Zartheit und seine Romantik
empfinden, um den Augenblick genießen zu können.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
(18.08.2003)
Dieser
Text ist zuerst erschienen – unter dem Usernamen Posdole – bei ciao.de
Ein
Mann und eine Frau
(Un
homme et une femme)
Frankreich
1966, 102 Minuten
Regie:
Claude Lelouch
Drehbuch:
Claude Lelouch, Pierre Uytterhoeven
Musik:
Vinicius De Moraes, Francis Lai, Baden Powell
Director
of Photography: Claude Lelouch, Patrice Pouget
Schnitt:
Calude Barrois, G. Boiser, Claude Lelouch
Produktionsdesign:
Robert Luchaire
Hauptdarsteller:
Anouk Aimée (Anne Gauthier), Jean-Louis Trintignant (Jean-Louis Duroc),
Pierre Barouh (Pierre Gauthier), Valérie Lagrange (Valérie Duroc),
Antoine Sire (Antoine Duroc), Souad Amidou (Françoise Gauthier)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/Title?0061138
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