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Ein
schönes Mädchen wie ich
François
Truffauts
Film "Ein schönes Mädchen wie ich" nimmt in seinem Gesamtwerk
eine Sonderrolle ein. Seine Filme waren in der Regel von einer Balance zwischen
Leichtigkeit und inhaltlicher Tiefe gekennzeichnet. Zwar unterschiedlich gewichtet,
waren sie doch niemals eindeutig, selbst hinter einer Unzahl von Liebesabenteuern
zeigten sich Anzeichen von Einsamkeit. Auf diese Vielschichtigkeit schien Truffaut
in seiner burlesken Komödie "Ein schönes Mädchen wie ich"
verzichtet zu haben, weshalb dieser Film in der Beurteilung heute einen eher
untergeordneten Status einnimmt. Dabei wollte er, wie er selbst in einem Interview
erwähnte, vor allem möglichst gut unterhalten.
Truffaut
schrieb in seinen Erinnerungen, dass er, der für seine sensible Schauspielerführung
bekannt war, diesmal seine Akteure dazu anhielt, möglichst dick aufzutragen
und zu übertreiben. Trotz der vielen guten Nebendarsteller steht Bernadette
Lafont eindeutig im Mittelpunkt, die hier die Rolle des „schönen Mädchens“
Camille Bliss übernahm. Auch wenn zu Beginn der junge Soziologie-Dozent
Stanislas Prévine (André Dussollier) scheinbar die Fäden
in der Hand hält, als er mit einem Tonbandgerät bewaffnet das Frauengefängnis
betritt, um so Informationen für seine Doktorarbeit über kriminelle
Frauen zu erhalten, so interessiert sich Truffaut doch ausschließlich
für Camilles Leben, um das sämtliche andere Personen kreisen.
So
geradlinig der Film erzählt wird und so charakterlich eindeutig die Nebendarsteller
konzipiert sind, so komplex ist die Hauptfigur - trotz ihrer scheinbaren Vordergründigkeit
- gestaltet. Camille, die aus einfachsten Verhältnissen stammt, hat den
natürlichen Drang, gesellschaftlich aufzusteigen und ist bereit, dafür
ihre körperlichen Vorzüge einzusetzen. Dabei macht sie keineswegs
ein Geheimnis aus ihrer Vulgarität, die man ihrer Sprache, Bildung und
ihrem Gesichtsausdruck anmerkt. Schon der Begriff des „schönen Mädchens“
verdeutlicht in diesem Zusammenhang eine gewisse Ironie, denn trotz ihrer guten
Figur ist Camille nicht wirklich schön. Ihren Gesichtszügen und ihrer
Mimik fehlt dafür die notwendige Klasse und Contenance.
Sie
plant ihren „Aufstieg“ auch keineswegs systematisch, sondern nutzt die sich
eher zufällig ergebenden Gelegenheiten. Das gibt der Figur trotz ihres
offensichtlichen Egoismus’ immer eine sympathisch wirkende Naivität, die
sich auch in der Ausübung ihrer Sexualität zeigt. Zwar ist ihr bewusst,
dass sie damit die Männer um den Finger wickelt, aber gleichzeitig macht
sie keine große Sache daraus. Überhaupt vermeidet Truffaut jegliche
emotionale Betonung. Tragik oder große Gefühle existieren hier bewusst
nicht, denn aus der lakonisch verharmlosenden Erzählweise über das
Schicksal einer jungen Straftäterin, die mit neun Jahren ihren Alkoholikervater
umbringt und schon als Jugendliche sexuell von den Männern benutzt wird,
gewinnt der Film seinen absurden Humor, der in dem ständig sonnigen Gemüt
seiner Protagonistin gipfelt. Da sie nicht die üblichen Mechanismen der
äußerlichen Anpassung oder der Hochstapelei ergreift, um in höhere
Schichten aufzusteigen, existiert in ihrer Vita gar nicht erst das Samenkorn
des Scheiterns. Selbst als sie zu Beginn des Films im Frauenknast zum Interview
erscheint und fröhlich losplappert, haftet ihrer Lebensgeschichte keinerlei
Tragik an.
Darin
ist auch ihre Anziehungskraft für die Männer zu erkennen, die weder
in sie verliebt sind noch ihr verfallen wären. Ihr Nutzen liegt für
sie vor allen Dingen in ihrer problemlosen Verfügbarkeit, was einen alten
Gefängniswächter, der sie seit ihrer Kindheit kennt, einen Vergleich
mit einem Elektrizitätswerk ziehen lässt – man ist zwar nicht unbedingt
begeistert, aber lassen kann man davon auch nicht. Die vielen teilweise abgedrehten
Männerfiguren wie der Ungeziefervernichter (Charles Denner), der Vorort-Sänger
(Guy Marchand) oder der zwielichtige Rechtsanwalt (Claude Brasseur) haben natürlich
auch eine Menge Probleme mit ihr, aber gleichzeitig kommen sie zumindest zeitweise
auf ihre Kosten.
Der
Einzige, der eine Tragik in dieser Lebensform erkennen will, ist der junge Soziologie-Dozent
Stanislas, was ihn in Truffauts Film zur lächerlichsten Figur werden lässt.
Während Truffaut sonst ohne zu werten bei dem meist wilden Treiben zusieht,
macht er sich über den intellektuellen Stanislas lustig, der für jede
von Camilles Wendungen und Ausreden einen wissenschaftlichen Grund findet. Dazu
lässt er sich von ihr mit offensichtlichsten Mitteln um den kleinen Finger
wickeln, während er die zarten Annäherungsversuche der hübschen,
gebildeten, aber braven Hélène (Anne Kreis) nicht bemerkt, obwohl
diese ihn sogar dabei unterstützt, als er Camilles Unschuld zu beweisen
versucht – ein bei realistischer Betrachtung unmögliches Verlangen.
Udo
Rotenberg
Ein schönes Mädchen wie ich
UNE BELLE FILLE COMME MOI
Frankreich - 1972 - 98 min. – Farbe - Verleih: Columbia
Films S.A. - Erstaufführung: 12.09.1972 - Produktionsfirma: Columbia Pictures - Produktion: Marcel Berbert
Regie: François Truffaut
Buch: François Truffaut, Henry Farrell, Jean-Loup
Dabadie
Kamera: Pierre-William Glenn
Musik: Georges Delerue
Schnitt: Yann Dedet
Darsteller:
Bernadette Lafont (Camille Bliss)
André Dussollier (Stanislas Prévine)
Charles Denner (Arthur)
Anne Kreis (Hélène)
Claude Brasseur (Maître Murene)
Guy Marchand (Roger)
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