„Oh,
Mr. Merrick, Sie sind kein Elefantenmensch, Sie sind Romeo!“
In David Lynchs Werk finden sich zwei Filme, die auf den ersten Blick „normal“ scheinen, d.h. die offenbar nicht in einer irgendwie surreal verformten Welt spielen. Beide beruhen auf Tatsachen. Der eine ist „The Straight Story“, der andere „The Elephant Man“.
John Merrick, ein junger Engländer der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, wird aufgrund der absurden Deformation seines Kopfes (mit
fast einem Meter Umfang) und seines mit Geschwüren bedeckten Körpers
von seinem „Besitzer“ dem Schaubudenbetreiber Bytes auf Jahrmärkten als
der „Elefantenmensch“ vorgezeigt, bis er von dem Londoner Arzt Dr.Treves für
seine wissenschaftliche Forschung entdeckt und, nach mehreren Hindernissen,
auf Dauer im Hospital untergebracht wird. Es stellt sich heraus, dass Merrick
nicht, wie man wegen seiner zunächst apathischen Stummheit vermutet, schwachsinnig,
sondern ein sensibler Mensch mit wachem Reflektionsvermögen ist, ein einsamer,
misshandelter Mann, der jahrelang wie ein Tier gehalten wurde und nie eine Chance
hatte mit anderen Menschen in gleichberechtigten Kontakt zu treten. Merrick
kann sprechen, sogar lesen und schreiben, und Dr. Treves versucht, ihm ein menschenwürdiges
Dasein zu ermöglichen.
Schwarzweißbilder klassischen britischen Kinos
eines David Lean prägen die Atmosphäre des “Elefantenmenschen“, kontrapunktiert
durch einen Prolog, Epilog und Mittelteil (kurze phantasmagorische Verdichtungssequenzen,
die für Geburt, Tod und leidvolle Existenz des Elefantenmenschen stehen),
Urbilder der Angst, wie wir sie von Lynch kennen - optische und akustische Fremdkörper,
die sich wundersam einfügen in diesen eher konventionellen Film, der auch
Jahrzehnte zuvor hätte gedreht sein können, was vor allem dem Briten
Freddie Francis zu verdanken ist, der als Kameramann seit den Fünfziger
Jahren an Filmen beteiligt war, die, laut Robert Fischer, zu den „schönsten
Schwarzweißfilmen in Cinemascope zählen, die je gedreht wurden“,
(z.B. „Söhne und Liebhaber“ (1960) oder „Schloss des Schreckens“(1961).)
„Der Elefantenmensch“ ist der einzige Film, den der Amerikaner Lynch in Europa
inszeniert hat. Er hat in ihm so viel Gespür für England, London und
die viktorianische Zeit entwickelt, dass er sich während der Dreharbeiten
geradezu in einen britischen Regisseur verwandelte. Da er erst mit dem „Elefantenmenschen“
beim großen Publikum bekannt wurde, hielten ihn lange Zeit viele Amerikaner
für einen Engländer.
Das düstere, vernebelte London eines späten
Dickens-Romans beherbergt in der Figur dieses „Elefantenmenschen“ John Merrick
eine Fusion des „Quasimodo“, dem „Glöckner von Notre Dame“ (nach Victor
Hugos Roman, verfilmt u.A. 1939 von William Dieterle; Quasimodo: Charles Laughton)
und dem herangewachsenen Baby aus Lynchs „Eraserhead“(1977): eine missgestaltete, erschreckende und ausgestoßene
Kreatur. Im Unterschied zu „Eraserhead“ hat Lynch die Perspektive gewechselt.
Er sieht mit den Augen der leidenden Missgeburt auf die Welt, die sie verdammt,
nicht umgekehrt. Dieses Monster ist gutmütig und unschuldig, es will nur
ein eines Menschen würdiges Leben - in
einer frühindustriellen Welt, in der geschundene Menschen in einer durch
qualmende Schlote verfinsterten Stadt arbeiten und leben müssen. Eigentlich
ist der Elefantenmensch Merrick keine Ausnahme, sondern eher komprimiertes Sinnbild
seiner Epoche. Er ist der Status Quo des unterdrückten, an den Rand des
Interesses gedrängten und von der Industrialisierung verformten Menschen.
In den Filmen David Cronenbergs besteht die evolutionäre
Konsequenz des industriellen Zeitalters meist darin, dass Mensch und Maschine
zu einer Einheit verschmelzen. In David Lynchs „Elephant Man“ imitiert der Körper
den Himmel über den Fabriken: „... man sieht Bilder von Explosionen – großen
Explosionen – sie haben mich immer an die Papillome an John Merricks Körper
erinnert... selbst die Knochen explodierten... brachen durch die Haut und bildeten
diese Wucherungen in Form von langsamen Explosionen...Die Vorstellung von Schloten,
Ruß und Industrie unmittelbar neben dem verwucherten Fleisch war...etwas,
das mich weitermachen ließ..“ (Aus „Lynch über Lynch“).
Wie auch „Eraserhead“ atmet „Der Elefantenmensch“ die
hermetische, stickige Luft eines rauhen Industrialismus. Wie in „Eraserhead“
ist ein permanentes Grummeln und Wummern Soundgrundlage. Weil im viktorianischen
London eines der lynch’schen Lieblingssujets, die Elektrizität (die in
jedem seiner anderen Filme summt und jeweils mindestens einmal gefährlich
knistert und deren Bedrohlichkeit sich durch flackernde Lampen bemerkbar macht),
noch nicht im allgemeinen Gebrauch war, benutzt Lynch das Geräusch der
Gaslampen als zweite wichtige Geräuschkulisse neben dem Fabrikenvibrato.
Sehr schön sicht- und hörbar ist seine bewusste
Vertiefung in dieses „Gas-Phänomen“, als die Oberschwester das Gas zur
Nacht herunterdreht und nicht nur alle Flammen kleiner werden, sondern zuerst
das von Tongestalter Alan Splet und David Lynch gemeinsam zurecht ziselierte
Geräusch verminderten Gasaustritts ertönt.
„Es ist Nacht!“ murmelt Merrick dann im Dämmerlicht,
und er weiss wie kein anderer um die Schrecken und die Ungeheuer dieser Stunde.
Damit antizipiert er schon den Augenblick, in dem Frank Booth in „Blue Velvet“(1986) mit den Worten „Jetzt ist es dunkel!“ seine eigene
Verwandlung in den so infantilen wie gefährlichen Psychopathen im Ausnahmezustand
einleiten wird. In der Lynch’schen Nacht schläft die Vernunft, und der
Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Die Dunkelheit ist die Zeit des Traumes,
(der Romantik, des Surrealismus), des Bösen (der Gewalt, des Verbrechens)
und des nicht Erkennbaren, des Unbewussten, das Angst bereitet, solange es nicht
entschlüsselt ist.
Je mehr John Merrick leiden muss, desto dunkler wird
der Film, desto weniger können wir ihn erkennen, so als müsse er wieder
in der Nacht des Leidens und der Sprachlosigkeit versinken, aus der er gekommen
ist. Nur die Sprache bringt Licht, nur durch sie bekommt Merrick Konturen, durch
sie entschlüsselt sich ihm die Welt, klärt sie sich auf.
Dunkel sind auch die Bilder seiner mysteriösen Herkunft:
Die mit John schwangere Mrs. Merrick sei „in ihrem 4. Monat auf einer unbekannten
afrikanischen Insel von einem Elefanten niedergetrampelt“ worden, proklamiert
Bytes, Merricks Schausteller. Und Merrick hat tatsächlich selber Ähnlichkeit
mit einem Elefanten.
John Merrick ist, auch in der vermeintlichen Sicherheit
des „London Hospital“, beidem ausgesetzt, in der Nacht der perversen Schaulust
und den demütigenden Qüälereien der Londoner Halbwelt, und tagsüber
dem Interesse der gehobenen Gesellschaft, die ihn offiziell begafft, der er
Tee anbietet, aber deren höfliche Umgangsformen er bis zur vollendeten
Vornehmheit kultiviert, und deren Kultur, von Salomons Psalmen bis zum Theaterbesuch,
er als Antwort auf die ihm an Leib und Seele erfahrenen Barbarei begreift. Anteilnahme
und Respekt widerfahren ihm durch Dr.Treves (Anthony Hopkins), den Klinikleiter
(John Gielgud) und die Oberschwester des Hospitals. Anne Bancroft spielt eine
Theaterschauspielerin, die in Merrick gar den „Romeo“ erkennt und ihm seinen
ersten Kuss gibt (12 Jahre nachdem sie in der „Reifeprüfung“[1968, Regie: Mike Nichols] als Mrs. Robinson in Dustin
Hoffman [profaner] den Mann erkannte und gebrauchte).
Merrick findet sein wahres Ich. Er wird Künstler,
weil sich erst in der Kunst der Mensch über sein materielles und sterbliches
Dasein erhebt. Er fertigt aus Streichhölzern die Miniatur einer Kathedrale,
von der er durch sein Fenster nur die Turmspitze erkennen kann. Mit Hilfe der
Phantasie baut er ein komplettes Kathedralenmodell, beinahe erfindet er die
Gotik neu, und mit diesem Lebenswerk – wenn es vollendet ist, wird er sich zum
Sterben niederlegen - rekonstruiert er das erzählerische Zentrum des „Glöckner
von Notre Dame“. Merrick wohnt in einer Kammer unter dem Turm des Hospitals,
zunächst erschreckt er beim Schlag der Turmglocke; später scheint
es, als erinnere er sich an (s)ein anderes, früheres Dasein...
Später werden uns Kleinwüchsige an die „Freaks“(1932) von Tod Browning erinnern. „Freaks“ ist „immer der unerträglichste Monsterfilm,
weil das Hollywood-Kino, das sonst die schönen Körper feierte, hier
zu einer Identifikation mit einer Menschheit zwingt, die nicht die üblichen
äußeren Formen unserer Art hat“, schrieb Frida Grafe 1993. Diese „Freaks“ retten ihren „Bruder“ John Merrick aus
größter Not, führen ihn vorbei an einem nächtlichen Fluss,
der wiederum - und da schließt sich ein mysteriöser Kreis - der „Nacht
des Jägers“(1955), Charles Laughtons einziger - und leider damals unterschätzter
- Regiearbeit entsprungen sein muss. In „Die Nacht des Jägers“ sind zwei Kinder vom Bösen verfolgt, und der Fluss ist ihr
märchenhafter Beschützer. Verletzbarkeit und wehrlose Unschuld eint
die Hauptfiguren aller drei Filme.
Die Geschichte John Merricks beruht auf einem Tatsachenbericht
des echten Dr.Treves. John Carey Merrick lebte von 1862 bis 1890. Die im Film
verwendete Maske des „Elefantenmenschen“ (gespielt vom im Film nicht erkennbaren
John Hurt) wurde dem Gipsabdruck der Totenmaske des originalen John Merrick
nachgebildet. Dieser Gipskopf hatte seit Merricks Tod bis zum Zeitpunkt der
Dreharbeiten noch nie das „London Hospital“ verlassen. So ist also der „Elefantenmensch“
im Schutz, gewissermaßen aber auch im „Besitz“ des Krankenhauses geblieben
(ähnlich wie er vorher im „Besitz“ des Schaubudenbetreibers Bytes war),
bis David Lynch ihn zum ersten Mal daraus befreite – und sich zu eigen machte.
„Der Elefantenmensch“ ist eine Parabel menschlicher Einsamkeit,
der Sehnsucht nach Geborgenheit inmitten einer brutalen, materialistischen Welt.
Wenn John Merrick sagt, dass er nur geliebt werden will, so wie er ist, dann
spricht er nicht nur für die „Freaks“ dieser Welt, sondern eigentlich für
jeden von uns. Oder können wir keinen einsamen Elefantenmenschen in uns
finden?
Andreas Thomas, 15.5.2003
Dieser
Artikel ist auch erschienen bei:
ciao.de
Der
Elefantenmensch
THE ELEPHANT MAN
England
- 1980 - 123 min. - schwarzweiß
FSK:
ab 12; feiertagsfrei
Prädikat:
besonders wertvoll
Verleih:
Neue
Constantin
Kinowelt Home (Video)
Erstaufführung:
13.2.1981/16.9.1999 Video
Fd-Nummer:
22762
Produktionsfirma:
Brooksfilms
Produktion:
Jonathan Sanger
Regie:
David Lynch
Buch:
Christopher
DeVore
Eric
Bergren
David
Lynch
Vorlage:
nach
den Büchern von Frederick Treves und Ashley Montagu
Kamera: Freddie Francis
Musik: John Morris
Samuel
Barber (Musik-Auszug Adagio for Strings)
Schnitt:
Anne V. Coates
Darsteller:
John Hurt (John Merrick)
John Gielgud (Mr. Carr Gomm)
Anne Bancroft (Mrs. Kendal)
Freddie Jones (Bytes)
Anthony Hopkins (Dr. Frederick Treves)
Wendy Hiller (Mothershead)
Hannah
Gordon (Anne Treves)