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Elephant
Der
Einäugige unter den Blinden
»Elephant« beginnt mit einer
Einstellung, die den Eindruck eines naturalistischen Videospielsettings erweckt.
Die Kamera schwebt ruhig und »steady« in leicht erhabener Position
hinter einem Auto über eine gerade Straße. Das Auto fährt Schlangenlinien.
Schrumms, ein parkender Wagen wird gerammt, ein Seitenspiegel bricht ab, das
Auto rollt weiter, prekär und friedlich. Bis es anhält und der Sohn
(John Robinson) des Fahrers (Timothy Bottoms) aussteigt, um einen Platzwechsel
vorzunehmen. Mit genervter Routine und resignativem Verantwortungsbewusstsein
dirigiert der Teenager seinen besoffenen Erziehungsberechtigten auf den Beifahrersitz
und bringt sich selbst zur Schule, wo er kommentarlos den üblichen Anschiss
wegen der notorischen Verspätung wegsteckt.
Wie in »Drugstore Cowboy«,
»My Own Private Idaho« und »Even
Cowgirls Get The Blues«
geht es Van Sant auch in »Elephant« um junge Erwachsene, unter anderem
zwei Drop-outs, die, anders als die Outsider in »Finding Forrester«
oder »Good
Will Hunting«, keinen
Bogen zu einer Wunderkindkarriere hinbekommen. Er zeigt in seinem neuen Film
einen scheinbar normalen Morgen in einer gewöhnlichen High School. Sie
wirkt in all ihrer Profanität – gedreht wurde mit jugendlichen Laiendarstellern
in dem Gebäude einer leerstehenden High School in Portland, Oregon – als
gespenstischer Ort. Die Kamera geistert durch die Gänge, immer wieder,
folgt geduldig und ohne zu wackeln, ähnlich wie dem Wagen auf der Straße,
verschiedenen Schülern auf alltäglichen Routen, gelangt in diverse
Räume – Sekretariat, Fotolabor, Turnhalle, Umkleideraum, Kantine, Toilette,
Bibliothek –, die aber Durchgangsstationen bleiben.
Die Kamera schaut den Durchgangsbeziehungen
der Schüler zu, hält lange auf die Hinterköpfe der jeweils ins
Visier genommenen drauf. Nacheinander werden aus verschiedenen Richtungen dieselben
Zufallsbegegnungen abgeschritten. Das Kontingente
der Abläufe tritt zunehmend auf der Stelle. Die High School wirkt wie ein
redundantes Labyrinth, in dem man sich nicht verirrt, sondern einfach nur hingehalten
wird, ein beklemmendes Laufrad, in dem man eine bestimmte, sich hinziehende
Zeit fristen muss. Karriereambitionen, Bulimie (die im Film auf seltsame Weise
mit Magersuchtverhalten gekreuzt wird), Mobbing usw. fördern Tunnelblicke.
Die Kameraführung suggeriert Teilnahmslosigkeit.
Die überwiegend konkrete Musik auf der Tonspur verweigert Stimmungsmacherdienste.
Auf Wertungen oder Emotionalisierungen mittels inszenatorischer Kunstgriffe
wird weitgehend verzichtet. Dinge passieren einfach, unter anderem eben auch
die letzten Vorbereitungen für einen Amoklauf, die fast nahtlos aus der
zwischenmenschlichen Mechanik einer friedlichen dysfunktionalen Familienfrühstückssituation
hervorgehen, nachdem beide Elternteile, deren knappe Sprechakte eine strukturelle
Ähnlichkeit mit leicht auszumanövrierenden Interventionen von Videospielstatisten
aufweisen, das Haus verlassen haben.
Vielleicht war Van Sants Einstellung-für-Einstellung-Remake
von »Psycho« nur eine Disziplinübung, um persönliche Autorenfilmerschrullen
loszuwerden. So ganz ließen sie sich allerdings auch diesmal nicht unterbinden.
Wenn sich Eric (Eric Deulen) und Alex (Alex Frost) unter der Dusche küssen,
um vor ihrem Abgang wenigstens einmal im Leben eine intime Handlung vollzogen
zu haben, schlägt »Elephant« eine geradezu poetische Note an.
Das elternhäusliche Zimmer, in dem die beiden Täterkids abhängen,
ist bestückt mit einem Klavier, um darauf Beethovens »Für Elise«
zu hämmern, und einem Laptop, um Ego-Shooter zu spielen oder online ein
Gewehr zu bestellen. Die Szene wirkt im Gegensatz zum übrigen Film autorenhaft
verdichtet, gesetzt. Ein Schwenk führt über ein Blatt Papier an der
Wand, auf das ein Elefant gezeichnet ist. Den Titel »Elephant« übernahm
Van Sant von einem gleichnamigen Kurzfilm über den Nordirlandkonflikt,
den der Regisseur Alan Clarke 1989 für die BBC drehte und in dem mit gnadenloser
Steadicam ohne jegliche Rahmenhandlung eine Abfolge von Morden gezeigt wird.
Der Titel des BBC-Films spielt auf eine
Metapher an: Die Gewalt ist wie ein Elefant im Wohnzimmer, mit dem sich absurderweise
arrangiert wird. Van Sant dachte anfangs irrtümlich, Clarke beziehe sich
auf eine alte Parabel, in der mehrere Blinde einen Elefanten untersuchen und
zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich dessen Gestalt kommen,
weil jeder ein anderes Körperteil ertastet.
Als wolle er etwas Überblick erhaschen, vermeidet Van Sant eine pseudodokumentarische,
nach subjektiver Involvierung und Perspektive aussehende Wackelkamera. Sein
»Elephant« wirkt deshalb ein wenig wie der Versuch, möglichst
wirklichkeitsgetreu ein soziales Milieu nachzuahmen, um soziologische Feldforschungen
anzustellen. So kommt zu dem Bemühen, auf »Meinung« oder gängige
(meist reaktionäre) Erklärungsmodelle zu verzichten, dasjenige hinzu,
durch Orientierung an »Fakten« aus der Berichterstattung über
die Vorfälle an der Columbine High School und ähnliche Ereignisse
eine gewisse Vollständigkeit der auszuwertenden Daten zu gewährleisten.
Auch ohne zu wissen oder zu entscheiden, wann und wo Elefantenpuzzleteile berührt
werden, sollen möglichst viele gestreift werden.
Während Eric und Alex Waffen in ihre
Taschen packen, läuft im Hintergrund ein Film über Nazi-Deutschland.
Dieser Film und das Ego-Shooter-Spiel sollen vermutlich eher beiläufig
dokumentarisch vorkommen, jedenfalls nicht in einem simplen Kausalzusammenhang
zum Gewaltausbruch stehen. Aber stellen sie tatsächlich lediglich eine
Bereicherung auf einer phänomenologischen Ebene dar, oder können sie
gar nicht anders, als heftig symbolträchtig herauszustechen – schütteln
sie als wie zufällig und wertneutral neben anderen
eingereihten Requisiten gar diskursiven Ballast ab? Die diskursive Schlagseite
des Ego-Shooters wird zumindest dadurch entschärft, dass die gesellschaftliche
Wirklichkeit in »Elephant« teilweise wie ein nicht allzu komplexes
Videospiel erscheint. Behauptungen, dass ein Videospielverhalten ins Soziale
überschwappt, würde somit entgegengehalten, dass sich umgekehrt das
verkümmerte Soziale, in dem sich die Teenager vorfinden, einem Videospielsetting
annähert – einem System, in dessen beschränkter Funktionslogik Schusswaffengebrauch
nichts anderes als eine angemessene Verhaltensoption wäre.
Frank Geber
Dieser Artikel ist zuerst
erschienen in der: Spex
Zu diesem Film gibt’s im archiv der Filmzentrale mehrere Texte
Elephant
USA 2003 - Regie: Gus van Sant - Darsteller: Alex Frost, Eric Deulen,
John Robinson, Elias McConnell, Jordan Taylor, Carrie Finklea, Nicole George,
Brittany Mountain, Alicia Miles, Kristen Hicks, Bennie Dixon, Nathan Tyson -
FSK: ab 12 - Länge: 81 min. - Start: 8.4.2004
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