zur
startseite
zum
archiv
Schon
der Beginn schafft es, den Spannungsbogen zu eröffnen: Alice (Maria Kwiatkowsky)
sitzt an einem Tisch und spricht mit ihrem Gegenüber. 'Ich wollte nicht,
dass sie stirbt', sagt sie, und von da an sind all die Rückblenden, in
denen die Geschichte von Alice erzählt wird, überschattet vom Wissen
um den Tod, der noch kommen wird. Das Coming-of-age ist eigentlich
ein Genre, das von der Entdeckung des Lebens erzählt - und das frühe
Wissen um den Tod, der am Ende von En
garde stehen
wird, schafft es, dem Genre eine angenehm dunkle Seite zu verleihen. Ähnlich
hat das Peter Jackson gemacht mit Heavenly
Creatures,
auch dort war das Erwachsenwerden zweier Mädchen mehr als nur symbolisch
mit Blut behaftet. Diese dunkle Seite des Genres, sie hat einen positiven Nebeneffekt:
Jene Elemente in En
garde,
die leicht hätten zum Klischee gerinnen können – die Schutzgelderpressung
unter den Mädchen im Heim, die Drogen, die Liebe – sie bleiben im Hintergrund
und werden angenehm unaufgeregt, fast beiläufig erzählt. Dass En
garde
immer ein kleines Stück neben den Erwartungen bleibt, die man an ihn stellt,
ist ein großes Verdienst. Haneke, Kubrick und Lynch nennt Polat im Interview
als Vorbilder. Und an einigen Stellen, da blitzt er auch durch, der
groteske Humor eines David Lynch. Wenn etwa Alice ihre Mutter besuchen soll
– oft sehen sie sich nicht – um ein Erbstück abzuholen, dann liegt dort
ein riesiger Hirschkopf
auf dem Tisch, samt Geweih. Wenn Alice mit diesem ererbten Ungetüm durch
die Straßen zurück ins Mädchenheim läuft, dann führt
das groteske Nebeneinander von eigentlich konventioneller Erzählung und
jenem Hirschkopf, der sich in das Filmgewebe eingeschlichen hat wie ein Parasit,
zu einem Bruch, der wie der zu Beginn angekündigte Tod den Film unterwandert
und einen all die Momente vergessen lässt, an denen man einen Sturz ins
allzu Didaktische befürchten könnte.
Der Eintritt
in die Welt der Erwachsenen ist für Alice eng verbunden mit dem Entdecken
ihrer Sinne: 'Alles hat mit meinen Ohren angefangen', erzählt sie ihrem
Gegenüber und dem Zuschauer. Ihre Ohren hören nicht zu wenig, sondern
zu viel: Das leise Pfeifen aus der Lunge eines Erkälteten schon hindert
sie am Einschlafen, eine Baustelle auf dem Schulweg wird zur unerträglichen
Tortur und zum Fechten, jenem Sport, der dem Film seinen Titel gibt, zum Fechten
geht sie nur wegen Berivan (Pinar Erincin). Berivan wartet auf die Genehmigung
ihres Asylantrages, die Freundschaft zu ihr befindet sich so in einem Zustand
der ständigen Schwebe – vielleicht muss sie schon am nächsten Tag
das Land verlassen. Alices Augen sind noch nicht so weit wie ihre Ohren, deren
überentwickelte Sinnlichkeit ihr zur Last wird – sie sieht wenig, zu dominant
ihr einer Sinn, zu wuchtig der Eindruck der Geräusche. Sie sieht nicht
die Freundschaft, wenn sie ihr angetragen wird und sieht nicht die Gefahr, in
die sie jene Freundschaft bringt. Patrick Orth, der schon in Yüksel Yavuz'
Kleine
Freiheit
für wundervolle Bilder gesorgt hat und zuletzt für Ulrich Köhlers
Bungalow hinter
der Kamera stand, findet die passende visuelle Umsetzung für Alices Entdeckung
ihrer Sinne: Eine Einstellung aus der Sicht der Hauptfigur ist da völlig
überzogen von einem schwarzen Netz, erst nach einer Weile realisiert man,
dass es sich um jene Maske handelt, die sie beim Fechten trägt. Das Sehen
muss sie noch lernen, die Maske erst abnehmen.
Jene Instanzen,
die beim Finden des Weges ins Leben helfen sollten, versagen kläglich:
Das katholische Mädchenheim, in dem Alice lebt, ist ebenso überfordert
wie Alices leibliche Mutter - selbst noch ein Kind, als sie schwanger wurde.
Eines der wenigen Treffen der beiden symbolisiert dann all das Unverständnis,
das die Mutter ihrer Tochter entgegen bringt. In einem Nagelsalon arbeitet sie,
und Alice verlässt die wenig erfreuliche Zusammenkunft ohne freundliche
Worte gehört zu haben, dafür mit glänzenden künstlichen
Nägeln – inklusive falscher Diamanten. Ihre Mutter bringt ihr nicht bei,
die Welt zu sehen, sondern das, was andere sehen sollen, zu fälschen. Die
Diamantennägel sind grotesk fehl am Platz an Alices Mädchenhänden.
Ihre Ersatzfamilie
findet Alice dann – gezwungenermaßen – in ihrer Freundschaft zu Berivan.
Schwierig wird natürlich auch diese Beziehung, denn als Berivan beginnt,
einen Freund zu treffen, droht Alice ein neuerlicher Verlust. Am Ende dann wird
Alice eines gelernt haben von ihrer Freundin: Eine Postkarte hat diese ihr geschenkt
mit einem Baum darauf. Ob es jedoch ein heiliger Baum ist, erzählt sie
Alice, kann man erst sagen, wenn man ihn aufsucht. Wenn ein See neben ihm ist,
dann erfüllt der Baum Wünsche. Die Wahrheit über die Dinge, scheint
der Film zu erzählen, sie liegt nicht im Abbild, sondern daneben, im Off.
Was Alice in ihrem Gehörsinn bereits symbolisch vollzogen hat – das Hören
all jener Dinge, die im Off geschehen, das hat sie mit Berivans Hilfe so am
Ende von En
garde
auch über das Sehen gelernt.
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
En
Garde
Deutschland
2004 - Regie: Ayse Polat - Darsteller: Maria Kwiatkowsky, Pinar Erinicin, Luk
Piyes, Antje Westermann, Geno Lechner, Julia Mahnecke, Jytte-Merle Böhrnsen,
Teresa Harder - FSK: ab 12 - Länge: 94 min. - Start: 9.12.2004
zur
startseite
zum
archiv