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Engel
der Verlorenen
Einer gegen den
Dschungel
Es ist eine schmutzige Gegend.
Alles scheint sich um einen mittelgroßen Tümpel zu gruppieren, einen
verdreckten Tümpel, der den ganz Müll der Stadt aufgesogen zu haben
scheint. Kinder spielen darin, ein Arzt warnt sie wegen der Ansteckungsgefahr
(Typhus), verjagt sie. Irgendwo in Tokio. Irgendwann nach dem großen Krieg.
Und Krieg ist immer noch; ein anderer Krieg, sozusagen ein "ziviler Krieg".
Armut, Prostitution und die Herrschaft der Yakuza scheinen die einzigen Dinge,
die hier zählen. Die Straßenverkäufer und Ladenbesitzer machen
eine sehr tiefe Verbeugung, wenn ein Yakuza, der das Viertel kontrolliert, vorbeikommt
und hier ein Stück Obst, dort eine Blume mitnimmt - natürlich ohne
bezahlen zu müssen. Matsunaga (Toshirô Mifune), ein junger Kerl,
kontrolliert dieses Viertel.
Inmitten dieses Orts der gefallenen
Engel, des Verbrechens und der Korruption, ganz nahe an dem Tümpel hat
Dr. Sanada (Takashi Shimura) seine Praxis. Und Dr. Sanada ist der Engel dieser
Verlorenen; der Engel der gefallenen Engel. Sanada ist ein fähiger Arzt,
einer der hätte Karriere machen können. Aber in seinen jungen Jahren
hatte er sich anders entschieden. Im Gegensatz zu seinem früheren Freund
Takahama (Eitarô Shindô), der das nahe gelegene Krankenhaus leitet,
wollte Sanada von Anfang an das tun, was ein Arzt eben zu tun hat heilen. Nicht
das Geld, das er hätte verdienen können, nicht der Ruhm, der anderen
zuteil wurde, interessierte ihn. Er wollte immer nur heilen, nicht nur den Körper,
sondern auch die Seele - und das dort, wo es am dringendsten nötig war
und ist, bei den Ärmsten, den Verlorenen.
Akira Kurosawa arbeitete in diesem
Film zum ersten Mal mit einem Schauspieler zusammen - mit Toshirô Mifune
-, der neben Takashi Shimura und anderen zu seinen "Stammschauspielern"
werden sollte. Und "Engel der Verlorenen" ist in gewisser Weise auch
noch in anderer Hinsicht eine Art Premiere: Zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit
werden in dem Film die tiefgreifende Zivilisationskritik und der unverbrüchliche
und unbestechliche Humanismus des Regisseurs zur tragenden Säule der Erzählung
über einen Arzt, dessen permanente Suche nach einem Ausweg und dessen Scheitern.
Eines Tages erscheint der junge
Yakuza Matsunaga in der Praxis Dr. Sanadas, der ihm eine Kugel aus der Hand zieht
und den Verdacht hat, dass Matsunaga an TBC leidet. Doch Matsunaga will das
nicht wahr haben. Er reagiert aggressiv auf die vorsichtige Diagnose des Arztes
und verschwindet wieder. Sanada ist erbost über die Unvernunft des jungen
Mannes und sucht ihn wenig später auf. Doch wiederum bekommt er als Antwort
nur Schläge von Matsunaga. Kurze Zeit später erfährt Sanada durch
Zufall von seinem Kollegen Takahama, dass Matsunaga im Krankenhaus war und dort
eine Röntgenaufnahme erstellt wurde. Tatsächlich fand man ein Loch
in seiner Lunge, und Takahama schickte ihn mit dem Bild zu Sanada. Matsunaga
allerdings verschweigt dem Arzt die Diagnose Takahamas.
Erst einige Zeit später taucht
Matsunaga - völlig betrunken und voller Angst, die er hinter seiner Aggressivität
zu verbergen sucht - des Nachts bei Sanada auf, der ihn aufnimmt, um ihn vor weiteren Dummheiten,
vor allem vor dem Genuss von Alkohol zu schützen.
Wenig später allerdings wird
der Vorgänger Matsunagas als "Bezirksleiter" der Yakuza, ein
gewisser Okada (Reisaburo Yamamoto), aus dem Gefängnis entlassen. Und der
stellt nicht nur eine Gefahr für Matsunaga dar, der befürchtet, Okada
könne versuchen, ihn beim Boss der Yakuza (Masao Shimizu) auszustechen.
Auch für die junge Krankenschwester Miyo (Noriko Sengoko) ist Okada ein
Risiko. Denn sie ist seine frühere Frau und hat Angst, Okada wolle sie
zurück haben.
Für Dr. Sanada eine schwierige
Situation - zumal sich die TBC Matsunagas verschlimmert. Ein Blutsturz folgt
dem anderen. Matsunaga ist geschwächt. Und der Boss der Yakuza hat angesichts
der Schwächung Matsunagas durch die Krankheit bereits beschlossen, Okada
in seine alte Position zu hieven. Matsunagas Geliebte verlässt ihn, um
Okadas Geliebte zu werden. Es kommt zu einer Katastrophe ...
Kurosawa konzentriert sich vollständig
auf seine drei Hauptpersonen - Sanada, Matsunaga und Miyo -, drei sehr unterschiedliche
Charaktere, in denen sich nicht nur das Milieu, in dem die Geschichte spielt,
spiegelt, sondern auch die unterschiedlichen Wege aufzeigen, wie die Akteure
sich in diesem Milieu bewegen und mit welchen Konsequenzen sie auf Ereignisse
reagieren.
Sanada ist dem Alkohol verfallen,
desillusioniert, ein Mann, dessen jugendlicher Idealismus längst auf der
Strecke geblieben ist, ein Held, der seinen Heldenmut verloren hat, der versucht
zu retten, was überhaupt noch zu retten ist. Als er auf den jungen Matsunaga
trifft, erinnert er sich an die Zeit, als er so jung war wie der, und er hat
nichts anderes mehr im Kopf, als zu versuchen, diesen jungen Verirrten zu retten.
Sanada lässt nicht locker. Sein Eigensinn, seine Wahrheitsliebe und sein
Hass auf die elenden Verhältnisse vor Ort treiben den alten Arzt - von
Takashi Shimura, dem großen japanischen Schauspieler einmal mehr eindringlich
gespielt - sozusagen zu einem letzten Versuch, wenigstens einen Menschen zu
retten. Natürlich hat er auch andere gerettet, etwa ein junges Mädchen,
das ebenfalls an TBC leidet, das aber die Vernunft besitzt, den Anweisungen
Sanadas zu folgen, um die Krankheit zu besiegen. Bei Matsunaga will Sanada mehr
retten: dessen Seele.
Matsunaga verkörpert einen
jungen Mann, dem jeglicher Idealismus fremd ist, der in ein bisschen Macht und
Ansehen, in Geld und einer Frau, die nur wegen seines bisschen Macht überhaupt
bei ihm ist, das Höchste im Leben entdeckt zu haben glaubt - und der dennoch
hinter alldem nur seine tiefsitzende Angst und seine Verzweiflung zu verbergen
versucht. Matsunaga glaubt, Konflikte nur mit Gewalt lösen zu können
- und dies wird ihm schließlich zum Verhängnis. Selbst in der Krankheit,
die ihn töten könnte, erkennt er keine Chance, über sein Leben
nachzudenken. Nur ganz kurz erkennt er in Sanada einen Mann, der ihm fast zum
Vater geworden ist.
Miyo als Dritte im Bunde hat vor
allem Angst - Angst vor Okada. Sie hat durch ihre Arbeit als Krankenschwester
Geld zusammengespart, um sobald wie möglich in ihre Heimat zurückzukehren.
Sie ist Sanada dankbar, der sie aus dem Sumpf der Yakuza herausgeholt hat. Und
sie beschwört Matsunaga, mit ihr zu gehen, um zu gesunden und ein anderes
Leben zu führen. Vergeblich. Miyo allerdings hat erkannt, dass sie in der
Großstadt gnadenlos untergehen würde, wenn sie bliebe. Ihr Wille,
in ihre Heimat zurückzukehren, ist keine Flucht. Es ist eine Art Selbstrettung,
ein Bekenntnis zum Leben.
Kurosawa gelingt es, durch diese
Personenkonstellation nicht nur das Milieu des Yakuza-Viertels eindrucksvoll
zu illustrieren. "Yoidore tenshi" ist ein beeindruckender Film über
die Stadt als soziales Netzwerk und als Moloch, in dem Humanität und Vernunft,
aber auch der gesunde Idealismus zunehmend verloren gehen. Matsunaga hat die
Regeln der Großstadt bereits derart verinnerlicht, dass es für ihn
keinen Ausweg aus diesem Dilemma mehr gibt. Er ist Opfer dieser Regeln und Täter
aufgrund dieser Regeln zugleich. Es fällt schwer, Matsunaga nicht zugleich
zu verachten und Mitgefühl für ihn zu hegen. In ihm kulminiert das
Unmenschliche der Stadt, dieses unüberschaubaren Dschungels, dieses Dickichts,
in dem nur noch Macht und Geld die Verhaltensweisen zu bestimmen scheinen. Selbst
wenn man von der Herrschaft der Yakuza abstrahiert, bebildert Kurosawa die Mechanismen
der Großstadt - ganz ähnlich wie etwa Scorsese in "Taxi Driver"
- als etwas Unfassbares, Unbegreifliches, Unkontrollierbares, in dem eben nur
noch brutale Machtmechanismen und Geld Ordnung in die Dinge bringen.
Zugleich ist "Yoidore tenshi"
aber auch dem Genre des Westerns sehr ähnlich. Kurosawa scheint der am
meisten "westliche" aller japanischen Regisseure, allerdings mit dem
Zusatz, dass er - ähnlich wie Fred Zinneman in "High
Noon"
- keiner Glorifizierung einer wie immer gearteten Gemeinschaft das Wort redet,
sondern deren Verhaltensweisen gnadenlos offenlegt.
DVD
Eine weitere DVD in der Reihe der
von KS Multimedia und Pegasus Home Entertainment editierten Reihe mit Meisterwerken
des japanischen Regisseurs. Für diese DVD-Version wurde das japanische
Master der Fa. Toho benutzt, so dass der Film in der ursprünglichen Fassung
genossen werden kann - mit beeindruckender Bild- und Tonqualität, in deutscher
oder japanischer Sprache mit deutschen Untertiteln sowie einer Slideshow mit
Bildern aus dem Film.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Engel
der Verlorenen
(dt. Alternativtitel: Der trunkene Engel)
(Yoidore
tenshi)
Japan
1948, 98 Minuten
Regie:
Akira Kurosawa
Drehbuch:
Akira Kurosawa, Keinosuke Uegusa
Musik:
Ryoichi Hattori, Fumio Hayasaka
Kamera:
Takeo Ito
Schnitt:
So Matsuyama
Ausstattung:
So Matsuyama
Darsteller:
Takashi Shimura (Dr. Sanada), Toshirô Mifune (Matsunaga), Reisaburo Yamamoto
(OKada), Michiyo Kogere (Nanae), Chieko Nakakita (Schwester Miyo), Noriko Sengoko
(Gin), Eitarô Shindô (Takahama), Masao Shimizu (Yakuza-Boss)
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