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Die
Erde bebt
Tradition
und „Moderne“
Zwischen
Viscontis Filmen „Der Tod in Venedig“ (1971), „Die Verdammten“ (1969) und „Ludwig
II.“ (1973) erscheint „La Terra Trema“ aus dem Jahr 1948 beinahe als neorealistischer
Ausrutscher des italienischen Meisterregisseurs (1906-1976). Doch schon in seinem
ersten Film „Ossessione ... Von Liebe zersetzt“ (1943), basierend auf Cains
Roman „The Postman Always Rings Twice“, der von Mussolinis Zensur verboten worden
und auch nach dem Krieg lange nur in verstümmelten Fassungen zu sehen war,
kreuzte sich der vordergründige Neorealismus des Regisseurs mit seiner
spezifischen Sichtweise einer Zeit, in der das „Alte“ nicht vergehen und untergehen
will, das „Neue“ nicht kommen kann, weil es der entfremdeten Welt nicht entfliehen
kann. Das „Alte“ war für Visconti der Kapitalismus, wie ihn der italienische
Marxist Gramsci sah.
Schon
in den beiden ersten Filmen aber, die zu Klassikern des Neorealismus zählen,
aber manifestiert sich die Visconti eigene Ästhetik und Bildersprache,
obwohl oder vielleicht gerade auch weil er z.B. in „Die Erde bebt“ derart „brachial“
und dicht den Einwohnern des sizilianischen Fischerdorfes Acitrezza „zu Leibe
rückt“, dass dies filmisch nur durch malerische Kompositionen ausgeglichen
werden kann, um nicht den Eindruck eines Dokumentarfilms zu hinterlassen. Visconti
war nie Dokumentarfilmer. Tatsächlich ist „La Terra Trema“ frühes
Zeugnis dafür, wie Visconti durch das filmisch intensive Ausmalen und Ausstaffieren
einer spezifischen Umgebung seine Figuren zwischen Entfremdung und Leidenschaft
agieren lässt, bis sie (fast) zerbrechen.
In
„Die Erde bebt“ zeigt Visconti einen sozialen und kulturellen Raum, doch zugleich
eben auch einen Raum der Leidenschaften, des (Auf-)Begehrens, der Rebellion
nicht nur in einem kollektiven, sondern vor allem in einem humanen und individuellen
Sinne. Er zeigt – und das ist Thema all seiner Filme – die Begrenztheit dieser
Räume, die mit aller Tragik verknüpfte Unmöglichkeit, sie „einfach“
zu verlassen bzw. verlassen zu können. Der Film, eigentlich als erster
Teil einer nie realisierten Trilogie angelegt, deren letzter Part mit dem kollektiven
Widerstand der Arbeiter enden sollte, fand die auch finanzielle Unterstützung
der italienischen Kommunisten, zumal Visconti Ort und Zeit der literarischen
Vorlage – ein Roman des sizilianischen Schriftstellers Verga (1840-1922) – in
die Gegenwart der Zeit nach Mussolini verlegte und ausschließlich mit
Laienschauspielern von Acitrezza arbeitete. Visconti, Drehbuchautor Pietrangeli
und teilweise auch Hauptdarsteller Antonio Arcidiacono fungieren in der Originalfassung
des Films als Erzähler. Die Darsteller sprechen kein Italienisch – für
sie die Sprache der Reichen –, sondern Sizilianisch.
•
I N H A L T •
Erzählt
wird die Geschichte der Familie Valastro, Fischer wie ihre Vorfahren, soweit
sie zurückblicken können, die hart arbeiten müssen, um ein karges
Leben führen zu können, das sie kaum aus Acitrezza herausführt
und herausführen kann. Die Fischer, die zweimal am Tag aufs Meer hinausfahren,
müssen ihren Fang den örtlichen Großhändlern verkaufen,
die sie ausnehmen, nur mehr oder weniger Spottpreise für den Fisch bezahlen.
Der junge ‘Ntoni Valastro (Antonio Arcidiacono) will sich dies nicht länger
gefallen lassen und ist entschlossen, anstatt der Eltern und Großeltern
der Fischer selbst mit den Händlern zu verhandeln. Zusammen mit seinem
Bruder Cola (Giuseppe Arcidiacono) muss er erkennen, wie die Händler sie
betrügen. Sie werfen die zweifelhaften Waagen der Händler ins Meer
und prügeln sich mit den Ausbeutern.
Die
Händler verzichten auf Strafanzeigen, weil sie auf die Arbeit der Fischer
angewiesen sind. ‘Ntoni sieht darin eine Chance, dem Diktat der Händler
zu entkommen: Mit dem Geld, das er durch eine Hypothek auf das Elternhaus bei
der Bank bekommt, kauft er sich ein eigenes Boot, um künftig auf eigene
Rechnung zu arbeiten. Doch ein furchtbarer Sturm zerstört das Boot und
entzieht damit der Familie Valastro die Lebensgrundlage. Die Bank beauftragt
einen Anwalt, das Haus zu konfiszieren, die Familie steht vor dem Nichts und
‘Ntoni wird gezwungen, sich der Herrschaft der skrupellosen Händler wieder
auszuliefern.
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I N S Z E N I E R U N G •
Am
Ende steht Zerrissenheit, Bruch, Trennung. Die Familie bricht auseinander. Die
eh schon bescheidenen Träume der Familienmitglieder weichen der Ärmlichkeit
der Verhältnisse, der Skrupellosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. Die
Schwestern Mara (Nelluccia Giammona) und Lucia (Agnese Giammona), die zusammen
mit der Mutter das Haus versorgen, müssen auf Beziehungen verzichten, ebenso
‘Ntoni, der in die hübsche Nedda (Rosa Costanzo) verliebt ist.
Der
Film zeigt das unaufhaltsame Eindringen einer neuen Lebensweise, des Kapitalismus,
in archaische Strukturen. Der Großvater der Familie (Giovanni Greco) steht
für das Alte, die Tradition; er kennt kein Aufbegehren, nur das duldsame
Leiden und Erleiden wie sein Vater, Großvater und alle vor ihnen. Doch
der Verfall dieser Lebensweise ist deutlich zu erkennen, nicht nur an den Häusern,
den Menschen, den Straßen, Wegen und der Kleidung der Einwohner. Mit dem
sozialen Verfall geht der kulturelle einher, die Lebensfreude trotz Armut, das
bisschen Glück und die Hoffnung auf Liebe. Die Händler lassen ‘Ntoni
und seine Familie im Netz ihrer Geldwirtschaft zappeln. „Wenn ich genug Zeit
habe, und die habe ich,“ sagt die Schnecke, „höhle ich den Stein.“ Die
Händler haben Zeit. Am Schluss bleibt der Familie Valastro „nicht mehr
als die Augen zum Weinen“.
Schon
in diesem Film sind Viscontis Bilder geprägt von Üppigkeit, ja einer
geradezu raumfüllenden Pracht und Intensität, die durch das Dokumentarhafte
der Bilder nur schwer zu verdecken ist. Die Kamera erkundet den Raum bis in
alle Einzelheiten, durchleuchtet die Häuser, das Meer bei Nacht, wenn die
Fischer auf den Booten ihre Laternen anzünden. Besonders in der zweieinhalbstündigen
Originalfassung des Films erstreckt sich diese Fülle der Details über
den ganzen Film. Visconti ermöglicht damit die Visualisierung des Kampfes
zwischen Tradition und „Moderne“, zwischen Duldsamkeit und Rebellion. Der zunehmenden
Verarmung und dem wachsenden Zerfall der familiären Strukturen entspricht
der maßlose Reichtum auf der anderen Seite. Der Raum dehnt sich nicht,
sondern in ihm verfallen die Menschen in zerrissene Arme hier und skrupellose
Händler und Reiche dort. Visconti verbirgt nicht seine Sympathie für
die Fischer und seine Verachtung für die Händler, in deren Büro
noch an der Wand, notdürftig überpinselt, der Name Mussolini prangt.
Aber
„La Terra Trema“ ist kein Film der politischen Verurteilung, eher eine (vergebliche)
Spurensuche nach den Chancen von Rebellion und Auswegen aus dem Dilemma einer
Zeit des gewaltsamen Umbruchs.
•
V I D E O K A S S E T T E •
Beide
Filme – die lange Originalfassung sowie die deutsche, auf 91 Minuten gekürzte
synchronisierte Fassung – sind auf einer Videokassette (leider nicht auf DVD)
bei arthouse erschienen. Der Vergleich beider Fassungen lohnt sich, denn in
der stark gekürzten Fassung fallen insbesondere die Teile des Films der
Schere zum Opfer, in denen Visconti in langen, aber nicht etwa langweiligen
Kamerasequenzen den Lebensraum der Fischer erkundet. Trotz dieser Kürzungen
dokumentiert auch die Synchronfassung die Aussagen des Films noch gut.
Und
trotz des Alters des (schwarz-weißen) Films ist insbesondere die Bildqualität
geradezu hervorragend. Der Ton enthält manchmal ein Knistern oder Rauschen,
das dem Genuss des Films jedoch nichts anhaben kann.
Der
Film kann bezogen werden über: http://www.cdhaus.de zum Preis von € 12,99
– ein Preis, der den Liebhaber kaum abschrecken wird.
•
F A Z I T •
„La
Terra Trema“ ist ein frühes Meisterwerk des italienischen Regisseurs, das
in vielerlei Hinsicht auf seine späteren Filme verweist. Auch wenn es noch
dem Neorealismus verhaftet ist, deutet sich im Film bereits die Visconti eigene
Art der Inszenierung an, wie sie etwa in „Tod in Venedig“ oder „Ludwig II.“
zum Ausdruck kommt.
Für
Liebhaber Viscontis ist die Videokassette eigentlich ein Muss.
P.S.
Visconti zur Seite standen übrigens die beiden später bekannt gewordenen
Regisseure Zeffirelli und Rosi.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst - unter dem Namen Posdole – erschienen bei: ciao.de
Die
Erde bebt
(La
Terra Trema: Episodio del Mare)
Italien
1948, 153 Minuten (Original mit Untertiteln), 91 Minuten (dt. synchronisierte
Fassung)
Regie:
Luchino Visconti
Regieassistenten:
Francesco Rosi, Franco Zeffirelli
Erzähler:
Luchino Visconti, Antonio Pietrangeli, Antonio Arcidiacono
Drehbuch:
Luchino Visconti und Antonio Pietrangeli, nach dem Roman „I Malavoglia“ von
Giovanni Verga
Musik:
Willy Ferrero
Director
of Photography: Aldo Graziati
Schnitt:
Mario Serandrei
Hauptdarsteller:
Antonio Arcidiacono (‘Ntoni), Giuseppe Arcidiacono (Cola), Nelluccia Giammona
(Mara), Agnese Giammona (Lucia), Giovanni Greco (Großvater), Nicola Castorina
(Nicola), Rosario Galvagno (Don Salvatore), Lorenzo Valastro (Lorenzo), Rosa
Costanzo (Nedda)
Internet
Movie Database:
http://german.imdb.com/title/tt0040866
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