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Die
Erde von oben
Der Buchwälzer wiegt mehr als vier Kilo, zählt
420 Seiten und hat Yann Arthus-Bertrand zum bekanntesten Luftbildfotografen
unserer Zeit gemacht: Von dem 1999 erschienenen Prachtband „Die Erde von oben“
wurden allein in Deutschland bisher 150.000 Exemplare verkauft. Nichts Geringeres
als eine umfassende Bestandsaufnahme des Planeten schwebte Arthus-Bertrand vor,
als er für sein Mammutprojekt erstmals 1991 in einen Hubschrauber stieg.
Über 2.000 Stunden verbrachte er in der Luft, schoss 500.000 Aufnahmen
und wählte knapp 200 Bilder aus: eindringliche Porträts von Gebirgsmassiven,
Flusslandschaften oder Millionenstädten, eine virtuelle Reise, die nicht
zuletzt durch die Intensität der Farbfotografie berauschende Wirkung entfaltet.
Der Huldigung des blauen Planeten folgt nun die filmische Hommage an den Fotografen:
Der Journalist und Multimedia-Spezialist Renaud Delourme hat sich mit dem Musiker
Armand Amar zusammengetan und das Bilderbuch zu einer Filmcollage umgearbeitet.
Ein aus Standfotos zusammengefügter Film mit
musikalischer Untermalung ruft zunächst Assoziationen hervor, die in Richtung
„vertonter Farbdiavortrag“ gehen. Doch „Die Erde von oben“ umschifft die Klippen
des Genres, vermeidet das Statische, das bloße Aneinanderreihen visueller
Stationen und bleibt auch in der Kombination von Ton- und Bildebene fast durchweg
erfinderisch – sieht man einmal vom eingangs gezeigten „Herzen von Voh“ ab,
einem Mangroven-Gebiet in Neukaledonien, dem Amar überflüssigerweise
einen Herzschlagrhythmus unterlegt. In Folge überfliegt man den brasilianischen
Regenwald und das majestätische Band des Amazonas oder blickt in die Hochhausschluchten
von New York oder Tokyo. Die Kontraste bestimmen den Puls des Stücks, dies
auch dank der unaufdringlichen Musik Amars, dessen mal klassische, mal ethnografische
Klänge häufig mit Geräuschaufnahmen gewürzt werden, die
der Komponist weltweit gesammelt hat. Dazu gleitet Delourmes nachschöpferische
„Kamera“ (eigentlich ein hochauflösender Scanner) über die Bilder,
setzt zum genaueren Hinsehen häufig neu an, um Details in den Blick zu
nehmen – die Walflosse in der Dünung oder das Nomadenpaar in der Wüste.
Die weichen Überblendungen formen einen Fluss der Bilder, der manchmal
weit voneinander entfernte Motive zusammenrückt, als wären die Oase
in der Sahara und der Eisberg vor Island unmittelbare Nachbarn. Wie schon im
kaleidoskopartigen Bilderkatalog geht es hier eher um ästhetische Verdichtung
als um geografische Verortung.
Die Kontinente wachsen zusammen, die Erde schrumpft
zur fragilen Wunderkammerkugel, und das deckt sich mit den Absichten der Urheber:
Arthus-Bertrand, der im Auftrag der UNESCO fotografierte, und Regisseur Delourme
wollen an das Menschheitsgewissen appellieren, verantwortungsvoller mit der
Erde umzugehen. Ihren schönen Bilderbogen lassen sie sich dennoch selten
von den unbequemen Zeugnissen menschlicher Hybris zerstören. Nach einer
kurzen Sequenz, die den vertrockneten Aralsee, die Geisterstadt Tschernobyl
und eine als Mahnmal stehen gelassene Ruine in Hiroshima Revue passieren lässt,
machen sich schnell wieder die Hochglanzansichten breit. Auch der als Vater-Sohn-Dialog
abgefasste Kommentar verhallt im Ungefähren wohlfeiler Zivilisationskritik.
Der (verzichtbare) restliche Text bewegt sich im
Fahrwasser pauschaler Natursehnsucht und formuliert diese Nostalgie mit manchmal
erstaunlich unlogischen Sätzen: „Im Land der fünf Sinne finde ich
die wunderbaren Bilder eines verlorenen Paradieses wieder, aus dem ich noch
nicht vertrieben worden bin.“ Gemeint ist Afrika, das auf viele Besucher am
Boden allerdings weniger paradiesisch wirkt. Ansonsten findet sich das eine
oder andere Philosophiehäppchen aus dem Werk des Anthropologen Edgar Morin,
tröpfelt Delourme ein wenig Melancholie aus der Feder des Flieger-Dichters
Antoine de Saint-Exupéry („Der kleine Prinz“) dazu – und tut unterm Strich
wenig dafür, die Erkenntnisfähigkeit seiner Adressaten zu wecken,
die im Bann der schönen Bilder vielleicht ohnehin schon entschlummert sind.
Die Risiken und Nebenwirkungen übermäßigen Höhenflugs liegen
auf der Hand: Vom himmlischen Standpunkt aus wirken die Missstände überschaubar
klein, und auch das Problembewusstsein schrumpft. Das Tragische daran ist, dass
Arthus-Bertrand und Delourme sich das genaue Gegenteil auf die Fahnen geschrieben
haben.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst
Die
Erde von oben
Frankreich
2004 - Originaltitel: La terre vue du ciel - Regie: Renaud Delourme - Darsteller:
Dokumentarfilm - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 67 min. - Start:
14.9.2006
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