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Die
Eroberung der Mitte
Der Film beginnt mit einer Ohrfeige und einer Umarmung.
Beide sind Teil einer gruppentherapeutischen Inszenierung, deren Regisseur,
den Therapeuten Marc Stroemer, wir gleich wegen seiner anmaßenden, kalten
Art nicht mögen. Schon in der nächsten Sequenz lernen wir den Menschen
kennen, der sich ihm entgegenstellen wird: Die junge, hübsche und intelligente
Wolke Donner wird sich in einer neuen Identität (die zuerst am Computerbild
erprobt wird) in seine Umgebung und sein Vertrauen schleichen. Sie wird seine
Mitarbeiterin, und er wird durch sie zu immer neuen Höhenflügen angestachelt-
Seine Fälle verarbeitet er zu windigen Lebenshilfe-Büchern, und schließlich
wird ihm die Auseinandersetzung mit der Krebserkrankung des therapiesüchtigen
Maklers Jacoby zum großen Erfolgsmodell, auf das auch die Versicherungsunternehmen
reagieren.
Dieser Jacoby wird von den Vertretern der „Gerätemedizin"
(das müssen wir hier ziemlich wörtlich nehmen) am Anfang als „Münchhausen"
bezeichnet, jemand, der mit einer eingebildeten oder vorgetäuschten Krankheit
eine Reise durch die teuersten und dramatischsten Therapieplätze unternimmt.
Wir könnten mit der Frage „Warum?" in das System zurückplumpsen,
das dieser Münchhausen durchreist, aber diesmal interessiert das „Wie?"
und so wird konsequenterweise Münchhausen zum Kommentator und Rebellen
seines Milieus. Er lebt die Krankheit und ästhetisiert sie zunehmend. Am
Ende hat er sich, in einer poetisch-komischen Szenerie, gar in ihren Propheten
verwandelt, der, eingehüllt in die Versicherungsfahne, über die Dächer
huscht. Was sich indes in dieser Zusammenfassung so anhört,
als könne man wahlweise einen sozialdemokratischen Aufklärungsthriller
oder eine Didi-Hallervorden-Komödie daraus machen, ist für Bramkamp
die Folie für eine filmische Bewegung, wie es sie im deutschen Film kaum
gibt: Nicht um die wie auch immer satirisch verformte Imitation der Wirklichkeit
geht es und nicht darum, daß ein Schauspieler seine Rolle „ausfüllt",
sondern um ein Denken in Bildern und Worten, das über den psychologischen
Realismus hinausgeht. Was einen als Zuschauer in Bann schlägt, ist nicht
die Sympathie oder Antipathie zu diesem oder jenem Schauspieler oder dieser
oder jener Schauspielerin, die für die Dauer der Einstellung vergessen
ließe, daß es einen Unterschied gibt zwischen Darstellung und Rolle,
Gegenwart und Repräsentanz des Schauspielers oder der Schauspielerin, sondern
dies ist der Beginn eines unendlichen Kreisens der Diskurse, eines positiven
Kreisens nach außen, das weder auf ein imaginäres Zentrum der Probleme
noch gar auf den Mythos einer Lösung zusteuert, sondern vor allem in einer
wundersamen, kosmischen und komischen Weiterung des Blicks besteht. Sanft, aber
mit listigem Nachdruck verführt uns Bramkamp zu einem anderen Sehen auf
das Geflecht von Liebe und Macht.
Die Liebe (das Leben), die Krankheit (der Tod), die Medizin
(die Macht) und die Versicherung (die Metaphysik) sind voneinander nicht nur
kausal abhängig, sondern verhalten sich auch wie ihre gegenseitigen Erfindungen.
Und so betreibt die Bewegung des Films nicht nur die Auflösung der obsoleten
Rationalisierungen (ohne sich dem barbarischen Diskurs der neuen Ganzheit zu
öffnen, dem, wie mir scheint, eine Mehrzahl der deutschen Filmemacher und
Filmemacherinnen mitsamt ihrer Klientel verfallen ist), sondern beginnt, in
das Geflecht dieser Erfindungen einzutauchen; wobei es immer deutlicher wird,
daß es die fundamentale Wahrheit nicht gibt, nicht einmal die des Körpers. Hinter dem Text wird nicht die Wirklichkeit,
sondern immer nur ein anderer Text sichtbar, und umgekehrt kann sich kein Text
darauf hinausreden, nur Text und damit „unwirklich" zu sein. Bramkamps
Figuren sind deshalb zwar nicht Subjekte als „Herren ihres Textes", keine
medialen Wiederholungen bürgerlicher Personen, aber es sind auch nicht
rhetorische Hülsen. Wir können ihnen immer wieder auch auf ganz direkte,
naive Weise nahe sein, auch während sie weit davon entfernt sind, direkt
und naiv sie selbst zu sein.
Bei alldem ist DIE EROBERUNG DER MITTE nicht nur gelegentlich
umwerfend komisch, wenn auch auf eine eher philosophisch-zerebrale Art, sondern
auch auf eine ganz einfache Art schön, in den Bildern und ihren Bewegungen.
Nur ist eben auch diese Schönheit nicht auf die gewohnte Art über-identifiziert:
So wie die Macht nicht identisch ist mit den Mächtigen, die Liebe nicht
identisch mit den Liebenden, so ist auch die Schönheit nicht identisch
mit ihrem Empfinden. Aber, das was nicht identisch ist, ist deshalb noch lange
nicht unabhängig voneinander.
Die eigentliche „Handlung" lassen Bramkamp und sein
Kameramann Ekkehart Pollack mit einer ebenso grandiosen wie präzis die
Form des Films selbst vorgebenden Bewegung beginnen: Wir sehen hinauf zu einer
riesigen Kuppel, aus deren gläserner Mitte Tageslicht in diese Herrschafts-
und Körperarchitektur fällt, die die Kamera nun in einer spiralförmigen
Bewegung durchmißt, gegen unsere Wahrnehmungskonventionen des establishing shots die architektonischen und ästhetischen Ebenen ohne
genauen Fixierungspunkt beschreibend (an Statuen vorbei, deren Köpfe nicht
im Bild erscheinen), über Türen, die nicht auf einer Ebene angeordnet
sind, schließlich über eine regungslos wartende Frau auf den Eingang,
durch den, noch einmal, das helle Tageslicht fällt (und ein beinahe schmerzhaftes
Grün die verläßliche Natürlichkeit der Natur in Frage stellt)
und die Heldin mit energischen Schritten kommt. Die Kamera verfolgt, in derselben
Bewegung fortfahrend, wie sich Wolke Donner auf einem freien Platz niedersetzt
und geht dann weiter bis zu einer nächsten Tür, aus der Marc tritt,
dort verharrt sie - Punkt und Auftritt der Macht ist erreicht, raumfüllend
inszeniert sich der Therapeut als jemand, der die Fäden in der Hand hält
(und schluckt doch gleich den Köder, den Wolke ihm anbietet). Diese vertrackt-schöne
Kamerabewegung, in der schon der melodramatische Widerspruch zwischen Fühlen
und Denken aufgehoben ist, beschreibt sehr genau die Struktur von Ableitung,
Architektur und Inszenierung, und die Kamera verbindet dies, für einmal,
nicht, indem sie Identität vorgibt. Auch die Kamera bleibt in gewissem
Grade unabhängig: Wir wissen, daß sie zwar für den „Text"
des Films (für den Zusammenhang zwischen Sprache und Bild) verantwortlich
ist (natürlich gäbe es diesen Text ohne sie nicht), aber sie ist nicht
mit ihm identisch. So wird sie auch im Verlauf des Films, weniger spektakulär,
doch entschieden, die vollständige Ordnung des Bildes und die Eindeutigkeit
der Perspektive verweigern und Bewegungen des Übergangs suchen. Ganz ähnliches
und damit verbunden spielt sich auf der Ebene des Dialoges ab. „Sie müssen",
sagt der Arzt zum „Münchhausen", während beide auf eine Gruppe
von Leuten schauen, die sich, vor einem großen, wieder licht- und gründurchfluteten
Fenster, versonnen um ihre Malereien_ kauern (das Therapie-Idyll nach der TherapieHölle),
„sich entscheiden, entweder Chemotherapie oder Psychotherapie. Auf jeden Fall
brauchen Sie neue Freunde." Was rational und medizinisch gesehen purer
Nonsens ist, wird in der Stofflichkeit des Bildes zu einer klaren Wegbeschreibung:
Rückzug auf den Körper, Rückzug auf die Sprache, Rückzug
auf die Beziehung. Mindestens eines ist jeweils ausgeschlossen, was, fatalerweise,
natürlich auch für das Gegenteil des Rückzugs, für die Öffnung
gilt.
Was DIE EROBERUNG DER MITTE, wenn man so will, zu einem
„postmodernen" Film macht, ist, daß er seinen Reichtum nicht aus
einer Geste der Negation gewinnt (es gibt ja das Romantische, das Komische,
das Symbiotische, das Kritische und das Sehnsüchtige noch, und der Film
registriert es mit ironischer Zärtlichkeit), sondern aus der Überschreitung
und Überlagerung, eben jener spiralförmigen Bewegung, die das, was
man hinter sich gelassen hat, nicht unsichtbar werden läßt, so wie
sich das Metaphysische ohne Zwang erkennen läßt. Jeder Bramkamp-Film
ist ein kleines Werk der Befreiung. Und weil das stets mit Glück verbunden
ist, auch mit ein wenig Arbeit der Phantasie, können diese Filme auch ein
bißchen süchtig machen.
Auch mit noch so angestrengtem Sehen kann ich in diesem
Film weder die Herrschaft der Zentralperspektive, noch die Konstruktion der
Person durch die Erzählung, ja vielleicht nicht einmal das, was man herkömmlich
als „Sinn" mißversteht, wiederherstellen. Die dramatischen Konflikte
der Hauptpersonen entpuppen sich auf der jeweils nächsten Ebene immer wieder
als Komplizenschaft, und statt der melodramatischen Klärung der Fronten
betreibt der Film die vollständige Vernetzung von Wahrnehmung und Interesse.
Nie „setzt sich jemand durch", nie „sagt jemand mal endlich die Wahrheit",
aus dem Zusammenbruch einer Intrige entsteht sogleich die nächste. Aber
zugleich kann ich mich nirgendwo auf Kälte und Distanz einstellen. Denn
wir sind so sehr in das Spiel involviert, daß wir, um es mit Umberto Eco
zu sagen, selbst am Text des „offenen Kunstwerkes" arbeiten. Bramkamps
Film „denkt" über Körper, Sprache, Ökonomie und Macht nach
und kommt zu dem Schluß, daß ein Beginn erreicht werden kann. Die
Idee bei Bramkamp ist keineswegs „filmisch dargestellt", sie ist selbst
Film geworden. Einen besonderen Reiz (und für den einen oder die andere
auch die besondere Schwierigkeit) erzeugt der Film schließlich dadurch,
daß er seine Methode ausgerechnet auf einen gesellschaftlichen Bereich
anwendet, der einer besonders rigiden Bearbeitung zwischen Rationalität
und Scharlatanerie unterworfen ist, und dessen Fähigkeit, die Mitte zu
erobern, vor allem aus dem Leidensdruck erwächst. Seine seltsame Freiheit
taucht ausgerechnet am unfreiesten Ort der Gesellschaft und der Biographie auf,
dort, wo Sprache und Körper am dramatischsten aufeinanderzuprallen scheinen.
Das wiederum aber haben Therapie und Film miteinander gemeinsam, und so wird
DIE EROBERUNG DER MITTE (die, wie alles Eroberte, natürlich verloren wird)
schließlich zu einem Essay über das Filmemachen. Auch der Autor und
sein Werk sind nicht identisch, und die Bewegung der Personen und Beziehungen
in DIE EROBERUNG DER MITTE bewegen sich aus der Mitte heraus; die Personen suchen
ihren Autor nicht mehr, und der läßt sie frei. Das ist die nächste
Umdrehung der Spirale, und nicht die letzte. Bramkamp gelingt es, im Film endlich
Räume zu öffnen, die in der Literatur und in der Bildenden Kunst schon
betreten sind, und er ist dabei einer der wenigen Neuerer des Kinos, bedeutender
als all die melancholische Kalligraphien, die Zeitgeistbeschwörer und Mythomanen,
an die wir uns gewöhnt haben. Da zeichnet sich ein Kino für Zeitgenossen
ab, die keine „Schule des Sehens" brauchen, sondern Filme, durch die sich
etwas denken läßt. Vielleicht können wir uns ja, was die ästhetische
Produktion anbelangt, wirklich noch einmal vom neunzehnten Jahrhundert verabschieden.
Sogar im deutschen Film.
Georg
Seeßlen
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: epd film
9/95
DIE
EROBERUNG DER MITTE
BRD
1994. R , B, P: Robert Bramkamp. K: Ekkehart Pollack. Sch: Renate Merck, Wolf-Ingo
Römer. M: Ulrich Eller, Paul Haubrich, W. A. Mozart. T: Hubertus Müll.
A: Christoph Winkler. Ko:
Olga Delgado-Lopez. Pg:
Wüste Filmproduktion/Premiere. U: Silver Cine. L: 79 Min. DEA: Berlinale
1995. St: 10.8.1995. D: Peter Lohmeyer (Mark Stroemer), Karina Fallenstein (Wolke
Donner), John S. Mehnert (Jacoby), Matthias Fuchs (Dr. Konstantin), Franziska
Ponitz (Carolin), Andreas Rädler (Dr. Lang), Thomas Knab (Sedelmann), Boris
Krebs (Harald), Elke Kaiser (Ellen).
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