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Er
Mit seinem Film „El“ präsentiert Luis Buñuel
einen gelungenen Psychothriller, der sogar Vorbildcharakter für Alfred
Hitchcock hatte. Speziell eine Kirchturmszene wirkt wie eine Vorausdeutung auf
Hitchcocks „Vertigo“.
Er, das ist Francisco Galvan de Montemayor (Arturo
de Córdova) ein mexikanischer Großbürger, angesehenes Mitglied
der Gesellschaft und, wie könnte es bei Buñuel anders sein, ein
treuer Sohn der katholischen Kirche. Als solchen lernen wir ihn in der Anfangsszene
des Films kennen, bei der traditionellen Fußwaschung am Karfreitag, wo
er dem Priester assistiert. In einer Reihe sitzen die barfüßigen
Ministranten und der Priester, Vater Velasco (Carlos Martínez Baena)
beugt sich über die nackten Füße der Knaben. Es geht um verdrängte
und unterdrückte Sexualität, wie spätestens in dem Moment deutlich
wird, wenn der Priester einen Knabenfuß mit beiden Händen fasst und
leidenschaftlich küsst. Wir sehen alles mit den Blicken Franciscos und
wir folgen seinem Blick von den nackten Knabenfüßen zu den beschuhten
Füßen der Erwachsenen eine Reihe dahinter. An einem Paar wohlgeformter
Füße in schwarzen Schuhen bleibt der Blick hängen und erhebt
sich zu dem zugehörigen Gesicht einer jungen Frau, die wir später
als Gloria (Delia Garcés) kennen lernen. Francisco verliebt sich nicht
nur schlagartig in die junge Frau, er ist von diesem Moment an von ihr besessen.
Er verfolgt sie und es gelingt ihm auf einer privaten
Feier die Angebetete seinem Bekannten, dem Ingenieur Raul (Luis Beristáin),
auszuspannen. Auf dieser Feier, bei der auch Franciscos Beichtvater, Vater Velasco
anwesend ist, erfahren wir sein Credo. Wahre Liebe muss Liebe auf den ersten
Blick sein. Ein Mann trifft eine Frau und erkennt sie sofort als Verkörperung
seiner Träume als sein lebenslanges Ideal. Francisco ist nicht nur reich
und fromm, er ist auch ein Romantiker und er ist darüber hinaus der Inbegriff
der Vernunft, wie der immerzu freundlich lächelnde Vater Velasco den anderen
Gästen versichert.
In diesen Anfangsszenen, die ganz aus Franciscos
Perspektive erzählt werden, erhält dieses Bild nur kleine Sprünge.
Wir sehen Francisco in aussichtlose Grundrechtsprozesse verbissen und wir erahnen
in ihm einen Heuchler, als er ein Hausmädchen feuert, weil sein Diener
Pablo (Manuel Dondé) sie belästigte. Er kann so einen Skandal nicht
dulden, aber er kann auf Pablo auch nicht verzichten. Es ist die Lösung
eines Mannes, der über seinem Bett nicht nur ein Kruzifix, sondern auch
ein Marienbild hängen hat.
Der Hauptteil des Films wird aus Sicht seiner Ehefrau
Gloria geschildert und nun lernen wir Francisco als Psychopathen kennen. Bereits
in der Hochzeitsnacht enthüllt sich seine rasende Eifersucht. Glorias Versicherung,
dass es keinen Mann außer Raul in ihrem Leben gab, bestärkt seinen
Verdacht über ihre verborgene Vergangenheit nur noch. Die Begegnung mit
Ricardo (Rafael Banquells) einem flüchtigen Bekannten Glorias steigert
seine Eifersucht zur Paranoia. Als er glaubt, Ricardo würde ihn durch die
Tür beobachten, stößt er eine lange Nadel durch das Schlüsselloch.
Ganz im Stil des Hitchcockschen Suspense steigert der Film die Entwicklung.
Könnte man anfangs noch glauben, Francisco hätte nur neurotische Marotten
wird zunehmend deutlicher, dass er wahnsinnig ist. Parallel dazu verstärkt
sich Glorias Isolierung. Francisco sperrt sie regelrecht ein und als Gloria
endlich Hilfe bei ihrer Mutter und bei Vater Velasco suchen kann, muss sie erkennen,
dass Francisco, diese längst für sich eingenommen hat. Francisco ist
der perfekte Gentleman, versichert der lächelnde Priester. Jemand der sein
Herz so öffnet wie Francisco kann nicht lügen, erklärt die Mutter.
Gloria ist allein und als Strafe für ihren Verrat, ihr Ausplaudern von
Privatangelegenheiten erschießt Francisco sie symbolisch mit Platzpatronen.
Funktioniert der Film auf einer Ebene als Psychothriller,
so gibt es noch eine Tiefenstruktur. Das eigentliche Thema ist gar nicht Franciscos
Psychose, sondern die Einbettung dieser Psychose in die Gesellschaft. Francisco
leidet an krankhafter Eifersucht, an Paranoia, er ist krankhaft auf Besitz fixiert
und er leidet an einer gestörten Sexualität. Trotz oder vielleicht
sogar wegen dieser Psychosen ist der so Gestörte der Angesehenste in der
Gesellschaft. Aus dieser Spannung bezieht der Film bei aller Spannung auch eine
beträchtliche Komik. Alle halten Francisco für ehrenwert, egal was
er tut. Als er eine Prügelei mit Ricardo beginnt, ist es Ricardo, der am
Ende aus dem Hotel geworfen wird. Wenn die Hausdiener von Schreien im Schlafzimmer
geweckt werden, gehen sie achselzuckend darüber hinweg.
Doch Francisco wird nicht nur als Psychopath, er
wird auch als Unsympath gezeigt, so dass man lange suchen muss, um einen widerlicheren
Charakter zu finden. Er ist skrupelloser Egoist und glaubt dabei, dass nur wenige
einen ähnlichen Sinn für Gerechtigkeit haben, er ist verlogen und
heuchlerisch, dabei auch weinerlich schwach und erbärmlich sentimental.
Er ist bereit Gloria zu vergeben, wo sie doch gar nichts getan hat und er heult
sie an, ihn nicht zu verlassen, um ihr im nächsten Moment wieder zu drohen.
In einer Schlüsselszene auf einem Glockenturm
schwärmt er davon, wie frei von Sorgen er sich so hoch über allem
fühlt. Gloria entgegnet ihm, dass sie Menschen vorzieht. Doch Francisco
blickt auf die Menschen als Würmer hinab, wäre er Gott, würde
er die Menschen zerstören. Dann versucht er Gloria zu bestrafen und vom
Turm zu werfen. Als sie sich befreien kann, läuft er hinter ihr her und
ruft, er wollte ihr doch nicht wehtun.
Die Wurzel von Franciscos Wahnsinn liegt in seiner
durch katholische Erziehung unterdrückten Sexualität, daran lässt
Buñuel keinen Zweifel. Vater Velasco, der Francisco seit seiner Kindheit
kennt, nennt ihn Gloria gegenüber einen „hombre puro“, einen „reinen“ Mann,
der noch nie etwas mit einer Frau hatte. Buñuel zeichnet Vater Velasco
absichtlich so freundlich und liebenswürdig, denn so verkörpert er
den verhassten Katholizismus, seine oberflächliche Sanftmut und seine dahinter
liegende Verlogenheit und Verdorbenheit. Er, dieser Francisco Galvan de Montemayor
ist der Bürger schlechthin oder besser der bürgerliche Mann schlechthin.
Er ist der archetypische Repräsentant einer Gesellschaft, die geprägt
ist durch Besitz, Machismo, Katholische Perversion, Verlogenheit, Heuchelei
und Sentimentalität.
Buñuel stellt ihm den pragmatischen und gerissenen
Diener Pablo gegenüber. Als Francisco voller Verzweiflung Pablo sein Leid
klagt, rät der ihm zur Scheidung. Eine Lösung, die in Franciscos Welt
nicht existiert. „Und wenn ich sie töte?“, fragt er stattdessen. Wir sehen
Francisco in der nächsten Szene die Treppe im Zickzack hinauf und hinunter
gehen, wobei er ständig mit einem Stock ans Geländer schlägt.
Er ist endgültig wahnsinnig geworden. Mit Nadel und Faden schleicht er
ins Schlafzimmer Glorias und versucht die Schlafende zu fesseln. Die Szene lässt
nur den einen Schluss zu, dass er vorhat ihr die Vagina zuzunähen. So könnte
er all seine Obsessionen gleichzeitig verwirklichen: Besitzwahn, Herrschaft
über die Frau, Jungfräulichkeit und Unterdrückung der Sexualität.
Gloria erwacht und kann fliehen. Francisco bricht zusammen. Als er Gloria verfolgt,
wird er von Wahnvorstellungen heimgesucht. Überall sieht er seine vermeintlich
untreue Frau und er gelangt schließlich in die Kirche. Doch auch hierhin
folgt ihm sein Wahn. Er glaubt, alle würden ihn auslachen und in surrealistischer
Verfremdung zeigt uns der Film, wie alle Gesichter sich in höhnische Fratzen
verwandeln. Auf dem Höhepunkt seines Wahns scheint er in dialektischer
Zuspitzung zu einer Erkenntnis zu kommen. Er stürzt nämlich zum Altar
und greift den Priester Vater Velasco an. So als läge im Irrsinn ein Moment
der Klarheit wendet er sich endlich gegen den Priester, als hätte er in
ihm die Ursache seiner Perversionen erkannt.
Doch die Kirche ist unangreifbar. In der Schluss-Szene
besucht Gloria, die inzwischen mit ihrem früheren Verlobten Raul verheiratet
ist und ein Kind hat, den angeblich geheilten Francisco im Kloster. In diesem
Kloster, fand er seinen Frieden. Wir sehen seine Gelassenheit doch wir sehen
auch, wie er nach dem Abschied im Zickzack ins Kloster zurückkehrt, so
wie er in jener Nacht auf der Treppe lief. Und wir ahnen, dass seine Obsessionen
unter der sanftmütigen Oberfläche weiter lauern.
Siegfried König
Er
El
Mexiko
1953, Regie: Luis Buñuel, Buch: Buñuel und Luis Alcoriza nach
einem Roman von Mercedes Pinto, Musik: Luis Hernández Bretón,
Kamera: Gabriel Figueroa, mit Arturo de Córdova, Delia Garcés,
Carlos Martínez Baena, Manuel Dondé, Luis Beristáin, Rafael
Banquells, Aurora Walker.
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