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Die
erste Vorstellung
Entfesselte Krisen-Energien
Gena Rowlands als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs
in John Cassavetes' großartigem Film "Die erste Vorstellung"
New Haven ist amerikanische Theaterprovinz. Eine
der Städte, in denen Inszenierungen, die zum Broadway wollen, sich aufwärmen,
in denen vor Publikum geübt und ausprobiert wird, wie das Stück und
die Aufführungsideen ankommen. Diese Form des Vorspiels lässt Freiraum
für Experimente und dazu auch, Schwächen zu entdecken und auszubügeln.
Nicht vorgesehen ist freilich die anhaltende Revisionsarbeit, die der Bühnenstar
Myrtle Gordon (Gena Rowlands) sich leistet. Myrtle kommt mit ihrer Hauptrolle
im neuen Stück "Second Woman" der erfolgreichen Dramatikerin
Sarah Goode (Joan Blondell) nicht zu Rande und treibt mit ihrem Widerstand gegen
das Porträt einer alternden Frau sich selbst in den Alkoholismus und alle
Beteiligten in den Wahnsinn.
So wird die Probenarbeit zum Kampf, auf der Bühne
und dahinter, zwischen der Schauspielerin und der Dramatikerin, dem Regisseur
Manny (Ben Gazarra) und dem Produzenten David und immer wieder Myrtle und Maurice
(John Cassavetes), der im Stück Myrtles zweiten Ehemann spielt. Wogegen
Myrtle sich wehrt, ist das Sich-Fügen der von ihr darzustellenden Bühnenfigur
in die Resignation des mittleren Alters. Sie begehrt auf gegen den Verlust an
Gefühls- und Lebensintensitäten, der mit diesem Sich-Fügen einhergeht.
Um die mit diesem Aufbegehren verbundenen eigenen Intensitäten dreht sich
im Grunde John Cassavetes' ganzer 1977 entstandener Film "Die erste Vorstellung".
Freilich sind es Krisen-Energien, die hier entfesselt werden; die Krise, die
in jedem Moment in die Katastrophe umschlagen kann, wird zum hysterischen Dauerzustand
dieses Films.
Was im Theater, auf der Bühne und auch dahinter,
zur Krise führt, ist die totale Unberechenbarkeit, die sich in Myrtle Gordon
verkörpert. Myrtle weigert sich, die Figur zu spielen wie vom Stück
verlangt. Sie bricht aus, sie verstummt, sie spricht eigenen Text, sie rebelliert
dagegen, auf der Bühne geschlagen zu werden. Sie trinkt und sie hat Halluzinationen.
Immer wieder erscheint ihr eine junge Frau, die von einem Auto überfahren
wurde, als sie zu Fuß Myrtles Taxi verfolgte. Diese Frau wird als Erscheinung
zum selbstbewussten, rebellischen Alter Ego, wird zur jungen Myrtle - und in
einem der nicht wenigen dramatischen Höhepunkte des Films muss Myrtle sie
ein weiteres, ein letztes Mal töten.
"Die erste Vorstellung" ist ein Film über
Grenzüberschreitungen. Die vom Theater etablierten Grenzen und fürs
Funktionieren des Theaters in seiner klassischen Form essenziellen Differenzen
werden hier immerzu außer Kraft gesetzt. Das Drama hinter der Bühne
dringt in den Bühnenraum ein und führt zu eigentümlichen Ununterscheidbarkeiten
zwischen der Fiktion des Stücks und dem realen Drama, das die Schauspieler
im wirklichen Leben ausfechten. Wobei "fechten" eher die falsche Metapher
ist, denn filigran und elegant geht es nicht zu. Sie ringen miteinander, sie
küssen sich, sie schlagen sich und manchmal hacken sie einander beinahe
auch die Augen aus.
Raffinierterweise erlaubt Cassavetes auch dem Filmzuschauer
nie den Überblick über die Lage der Dinge. Fast nie lässt sich
eindeutig sagen, ob die Dialoge und Szenen, die man auf der Bühne sieht,
vom Stück vorgesehen oder von den Darstellern gerade improvisiert sind.
Die in den ersten Einstellungen scheinbar klare Aufteilung zwischen Bühne,
Theaterraum, Hinterbühne und Außenwelt löst sich zusehends auf.
Alles schiebt sich ineinander, das Leben drängt auf die Bühne, die
Rolle ins Leben, bis alles zur fast völligen Ununterscheidbarkeit ineinander
vermischt ist.
Das findet auch in der Inszenierung seinen Ausdruck.
Der Rahmen, den die Kamera mit frontalen Totalen auf die Bühne zunächst
setzt, zerbirst in einer hektischen Folge von Großaufnahmen und abrupten
Schnitten. Was von einem Bild aufs nächste passiert, ist bald so unberechenbar
wie das Verhalten der Hauptfigur. In fast gewalttätigen Montagen schleudert
Cassavetes auch den Zuschauer aus der Szene, setzt gegen einen hysterischen
Höhepunkt einen banalen nächsten Moment; unversehens schaukelt sich
alles wieder ins Hysterische auf - um dann ebenso plötzlich wieder abzubrechen.
Es läuft zu auf die titelgebende "erste Vorstellung" am Broadway.
Katastrophe und Triumph, Kollaps und Katharsis liegen hier denkbar nah beieinander.
Die Ambivalenz bleibt gewahrt, denn noch jetzt wird man aus dem, was man sieht,
nicht wirklich schlau. Sieg des Aufbegehrens, letztliche Fügung? Der Vorhang
fällt, das Ende bleibt offen.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz vom 24.5.2007
Zu diesem Film gibts im archiv mehrere Texte
Die
erste Vorstellung
OPENING
NIGHT
USA
- 1977 - 147 min. - Verleih: Atlas - Erstaufführung: 19.11.1979 ARD - Produktionsfirma:
Faces - Produktion: Al Ruban
Regie: John
Cassavetes
Buch: John
Cassavetes
Kamera: Al Ruban,
Frederick Elmes
Musik: Bo
Harwood
Schnitt:
Tom Cornwell
Darsteller:
Gena
Rowlands (Myrtle Gordon)
John Cassavetes
(Maurice Aarons)
Ben Gazzara
(Manny Victor)
Joan Blondell
(Sarah Goode)
Paul Stewart
(David Samuels)
Zohra Lampert
(Dorothy Victor)
Laura
Johnson (Nancy Stein)
Die
DVD ohne Extras ist im Handel ab rund 16 Euro erhältlich
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