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Es
geschah am hellichten Tag
„Neben
der offenen Haustüre saß
ein
alter Mann auf einer Steinbank.
Er
war unrasiert und ungewaschen,
trug
einen hellen Kittel, der schmuddelig
und
verfleckt war... Er stierte vor
sich
hin, verblödet, und ich roch
schon
von weitem den Schnaps. ...
und
hinter der Theke stand eine
hagere
Frau. ... Die Frau begann zu
hantieren,
und aus dem Nebenzimmer
kam
eine schlampige Kellnerin, die ich
auf
etwa dreißig schätzte. ‚Sie ist sechzehn’,
brummte
der Kommandant.”
(aus:
Das Versprechen)
Kein
anderer als Friedrich Dürrenmatt selbst schrieb das Drehbuch zu einem der
meist gefeierten deutschen Kriminalfilme aus dem Jahr 1958, bevor er im selben
Jahr aus dem Stoff einen Roman schrieb, der den Untertitel „Requiem auf den
Kriminalroman” trug. Offensichtlich unzufrieden nicht nur mit dem Ausgang des
Films von Ladislao Vajda, sondern auch mit dem gängigen Krimi-Genre seiner
Schriftstellerkollegen ließ Dürrenmatt seinen Roman nicht nur düster
ausgehen (nämlich damit, dass die Hauptfigur im Wahnsinn endete). Er setzte
auch andere Akzente bezüglich der entscheidenden Abschnitte der Geschichte,
in der es vordergründig um die Suche nach dem Mörder mehrerer kleiner
Mädchen geht.
Doch
zunächst zur Handlung:
Inhalt
Im
Wald findet der Hausierer Jacquier (Michel Simon, in einer seiner phantastischen
Rollen) die Leiche eines kleinen Mädchens. Er meldet dies den Behörden,
und die Kriminalbeamten Feller (Siegfrit Steiner), Heinzi (Siegfried Lowitz)
und Oberleutnant Matthäi (Heinz Rühmann), der eigentlich schon seinen
Posten aufgeben wollte, beginnen mit den Ermittlungen. Gritli Moser heißt
das Opfer, und Matthäi verspricht den entsetzten Eltern (Margrit Winter,
Hans Gaugler), den Mörder zu finden.
Zunächst
verdächtigen vor allem Heinzi und Feller den Hausierer, der die Tat jedoch
abstreitet und verzweifelt seine Unschuld beteuert. Nur vage Indizien – etwa
dass Jacquier Rasiermesser verkauft und Gritli mit einem solchen ermordet wurde
– sprechen gegen ihn. Die Einwohner des Dorfes wollen der Polizei „die Arbeit
abnehmen” und Jacquier lynchen. Für den alten Mann ist das alles zu viel.
Eines Morgens finden ihn die Beamten erhängt in der Zelle, nachdem er tags
zuvor gestanden hatte. Der Fall scheint klar. Doch Matthäi glaubt nicht
an die Schuld Jacquiers.
Während
sich die Dorfbewohner über den Selbstmord Jacquiers freuen, geht Matthäi
etwas nicht mehr aus dem Kopf: eine Zeichnung der kleinen Gritli, die er im
Klassenzimmer findet. Gritli malte einen großen, breitschultrigen Mann
in dunkler Kleidung, der einem kleinen Mädchen „Igel” überreicht.
Auf dem Bild ist zudem ein Tier gemalt, ein Steinbock. Matthäi glaubt,
dass der wirkliche Mörder aus Graubünden stammt, weil der Steinbock
das Wappentier des Kantons ist und auf jedem Autokennzeichen zu finden ist.
Die „Igel” hält er für Schokolade, mit der der Unbekannte Gritli gelockt
haben könnte.
Der
Polizeikommandant (Heinrich Gretler) weigert sich, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.
Er hält wie alle anderen Jacquier für den Mörder. Und auch der
Psychiater und Freund Matthäis, Prof. Manz, warnt den Oberleutnant, sich
nicht in diese Sache zu verbeißen. Sonst lande Matthäi eines Tages
bei ihm: als Patient. Andererseits hält es Prof. Manz für durchaus
möglich, dass der Mörder ein Mann sein könne, der Frauen hasst
– vielleicht weil er eine strenge, herrschsüchtige Mutter hatte oder mit
einer solchen Frau verheiratet ist. Er könne Angst vor Frauen haben, und
deshalb lasse er seinen Hass an wehrlosen kleinen Mädchen aus.
Matthäi
ist entschlossen, den wirklichen Mörder zu suchen. Er mietet die Tankstelle
eines Italieners an der Straße zwischen Chur und Zürich, nachdem
er festgestellt hat, dass auch weitere Mädchenmorde in der Vergangenheit
in der Nähe dieser Straße begangen worden und die ermordeten Mädchen
sich ähnlich waren. Als er in der Nähe in einem Dorf die kleine Annemarie
(Anita von Ow) trifft, die Gritli ähnlich sieht, ist er entschlossen, sie
als Lockvogel für den Mörder einzusetzen. Er stellt ihre Mutter, Frau
Heller (María Rosa Salgado), als Haushälterin ein. Von allen aus
Graubünden kommenden Autos notiert sich Matthäi die Kennzeichen, um
hernach zu erfahren, ob die Eigentümer Kinder haben. Prof. Manz hatte ihm
erzählt, dass der Mörder wahrscheinlich keine Kinder habe. Matthäi
wartet, überprüft Fahrzeuginhaber, wartet, freundet sich mit Annemarie
an, die ihn mag. Doch eines Tages wird es ernst. Annemarie kommt aus dem Wald
– mit schokoladeverschmierten Fingern ...
Inszenierung
Das
Anliegen der Produzenten des Films war es, die Öffentlichkeit für
die zunehmenden Gewalttaten gegen Kinder in dieser Zeit zu sensibilisieren,
Eltern zu warnen, ihre Kinder nicht allein durch einsame Straßen und dunkle
Orte zu schicken. Dürrenmatt erklärte sich bereit, das Drehbuch für
den Film zu schreiben. Heraus kam ein Streifen, der sicherlich als guter Kriminalfilm
mit hervorragenden Schauspielern „durchgeht” und auch heute noch sehenswert
ist. Dass der schweizerische Schriftsteller mit dem Ergebnis dennoch unzufrieden
war, hat seine Gründe in den unterschiedlichen Intentionen der Filmemacher
und des Schriftstellers. Der Film konzentriert sich auf die Aufklärung
von Verbrechen eines Psychopathen an Kindern; der kurz darauf erschienene Roman
„Das Versprechen” stellt den unzähmbaren Willen Matthäis ins Zentrum
des Geschehens, die Wahrheit zu ergründen. An diesem Drang geht Matthäi
letztlich zugrunde, fängt zu rauchen und zu trinken an und endet im Wahnsinn.
Als die Polizei Jahre später von der sterbenden Frau des wirklichen Mörders
erfährt, wer die Mädchen getötet hat, erreicht diese Information
den kranken Matthäi nicht mehr. Er ist an seiner Gier nach „der Wahrheit”
selbst zugrunde gegangen.
Im
Film dagegen treffen wir auf einen Kommissar, der zwar auch nicht aufgeben will,
den Mörder allerdings findet und nicht im Wahnsinn endet. „Es geschah am
hellichten Tag” ist geprägt durch die Absicht der öffentlichen Warnung
vor zunehmenden (Sexual-)Verbrechen an Kindern, also eine Art pädagogischer
Aufklärungsfilm. Selbst in dieser Hinsicht kommt der Film allerdings nicht
ohne Klischees aus – etwa der allzu simplen These vom von Frauen unterdrückten
Mann, der seinen Hass an Kindern auslässt. Trotz der überzeugenden
schauspielerischen Leistungen von Gert Fröbe und Rühmann, der hier
endlich einmal in einer ernst zu nehmenden Rolle zu sehen war, fehlt dem Film
das psychologische und, wenn man so will, auch philosophische Einfühlungsvermögen,
das der Roman Dürrenmatts grandios verkörpert.
Die
entscheidenden „Eckpunkte” der Geschichte werden samt und sonders visualisiert,
aber derart verflacht, dass man dem Film nicht mehr (allerdings auch nicht weniger)
als das Prädikat „guter Krimi” verleihen kann. Inwieweit Dürrenmatt
selbst auf die Dreharbeiten Einfluss nehmen konnte, ist mir nicht bekannt. Seine
Reaktion ist bekannt: „Das Versprechen.”
„Der
Einzelne steht außerhalb
der
Berechnung. Unsere krimi-
nalistischen
Mittel sind unzulänglich,
und
je mehr wir sie ausbauen,
desto
unzulänglicher werden
sie
im Grunde. Doch ihr von
der
Schriftstellerei kümmert
euch
nicht darum. Ihr versucht
nicht,
euch mit einer Realität
rumzuschlagen,
die sich uns
immer
wieder entzieht, sondern
ihr
stellt eine Welt auf, die zu
bewältigen
ist. Diese Welt mag
vollkommen
sein, möglich, aber
sie
ist eine Lüge.”
(Fr.
Dürrenmatt)
Zentral
für die Geschichte sind u.a. folgende Gesichtspunkte:
1.
Das Versprechen selbst. Es ist ein zentrales Moment, weil Matthäi dieses
Versprechen nicht nur „so einfach” abgibt, sondern darin eine unabdingbare Verpflichtung
gegenüber den Eltern sieht – und gegenüber sich selbst. Matthäi
ist ein „Mann der Wahrheit”, einer der nicht aufgeben will, bis er sie gefunden
hat. Das Versprechen verknüpft sich mit dieser inneren Verpflichtung eines
Mannes, der voll und ganz von der kriminalistischen Methode überzeugt ist,
die allein zur Wahrheit führe, wie er meint.
2.
Die Kurzsichtigkeit. Die Vorurteile. Nur hauchdünn angedeutet im Film wird
die klaustrophobische Enge dieses Örtchens, in dem die Bewohner sich der
Mühe entziehen wollen, den wirklichen Täter zu fassen. Der Hausierer,
der gemieden wird, der sowieso ein Outlaw ist, der schon oft mit dem Gesetz
in Konflikt geraten ist – das ist der optimale Täter, sozusagen der Täter
par excellence. Und wenn man ihn gleich lynchen würde, wäre die Ordnung
im Ort wiederhergestellt. Selbst die anderen Polizisten glauben fest an ihn
als Täter. Ihren Glauben, der durch schwache Indizien kaum untermauert
wird, stilisieren sie zur Wahrheit. Und was wahr ist, muss es bleiben und Konsequenzen
nach sich ziehen. Wie wunderbar, dass Jacquier unter dem Druck des Verhörs
gesteht, weil er nicht mehr kann, und wie noch wunderbarer, dass er sich selbst
richtet. So entsteht Wahrheit.
3.
Das Gespräch zwischen Matthäi und Prof. Manz. Das ist auch so eine
Scheidelinie, eine Schneide-Linie, zwischen Wahrheit und Wahrheit, zwischen
sich selbst zur Tugend erklärenden Kriminalistik und Wahrhaftigkeit. Es
könnte ein Täter sein, der .... Aber Du könntest Dich verrennen.
4.
Wahrheit und Märchen. Die kleine Gritli war zwar kein Rotkäppchen,
aber ein Mädchen mit rotem Rock, das im Wald auf den „bösen Wolf”
trifft. Ihr Mörder nutzte dies aus, dies, die kindliche Unschuld und die
kindliche Wahrheit, die stark vom Märchen geprägt ist, aber auch von
einem Fühlen und Denken, zu dem Erwachsene kaum noch Zugang zu haben scheinen.
Auch Matthäi erzählt der kleinen Annemarie stundenlang Märchen,
um es an sich zu binden, um Vertrauen zu schaffen, um es kontrollieren zu können.
Demgegenüber steht eine Art erwachsene Kindlichkeit, dieses Hinschauen
auf das Schreckliche, dann das Wegblicken vor Entsetzen und wieder das Hinschauen
als Hinstarren, als Ausdruck des Unbegreiflichen. Im Film wird dies in einer
Szene überzeugend inszeniert, ob mit Bedacht oder unbeabsichtigt, kann
ich nicht beurteilen. Es ist die Szene, als Matthäi den Eltern die Nachricht
von der Ermordung Gritlis überbringt. Der Vater kann es nicht glauben,
die Mutter steht stumm und erstarrt in der Tür.
Mit
dem Unfassbaren, dem Unbegreiflichen kommt weder Matthäi zurecht, noch
irgendein anderer Erwachsener. Trotzdem muss er das Unbegreifliche, also das,
was sich dem Verstand entzieht, überwinden, aus der Starrheit des Entsetzens
fliehen. Wie? Der befreiende Akt besteht in der Instrumentalisierung der Situation.
Das Kriminalistische wird zum Rettungsanker, zum Mittel dieser Instrumentalisierung
– und auch Annemarie und ihre Mutter, vor allem diese beiden, werden im Namen
der Wahrheit instrumentalisiert. Matthäi kommt es dabei recht, dass Frau
Heller im Dorf gemieden wird, weil sie ein Kind hat und nicht verheiratet ist.
Er nutzt diesen Umstand für seine Zwecke, wie er Annemarie als Köder
benutzt.
Auch
dieser Aspekt wird im Film zwar deutlich, aber nicht in seinen ganzen Ausmaßen,
nicht als Ausdruck der Verselbständigung des Kriminalistischen, in dem
die Wahrheit nicht mehr im Mittelpunkt steht, auch wenn Matthäi immer wieder
als Mann dargestellt wird, dem es nur um die Wahrheit gehe. Wie schrieb Dürrenmatt?
„Ihr versucht nicht, Euch mit einer Realität rumzuschlagen, die sich uns
immer wieder entzieht, sondern ihr stellt eine Welt auf, die zu bewältigen
ist.” Genau das – was Dürrenmatt hier seinen Kollegen Kriminalschriftstellern
ins Stammbuch schreibt (der Untertitel des Romans lautet ja auch „Requiem auf
den Kriminalroman”) – geschieht in Vajdas Film: Matthäi erreicht durch
kriminalistisches Geschick die Lösung des Falls. Die Welt ist wieder in
Ordnung, jedenfalls erst einmal. Er hat den Fall bewältigt, den Mörder
gefunden. Die Motivation des Mörders ist „angesprochen” (Berta Drews in
der Rolle der herrschsüchtigen Frau Schrott), das Kind Annemarie ist gerettet,
die Dorfbewohner und seine Kollegen stehen vielleicht etwas dumm da – aber was
zählt das noch? Der Mörder ist zum Schluss tot – aber was ist gewonnen?
Ist
das alles „Wahrheit”? Welche Wahrheit? Die des Kindes Annemarie? Die seiner
Mutter? Die Matthäis? Die seiner Kollegen und der Dorfbewohner? Die des
Mörders? Die seiner Frau? Oder die Wahrheit der Kriminalistik? Und: Was
haben diese Wahrheiten miteinander zu tun? Kreuzen sie sich, gibt es Schnittpunkte
zwischen ihnen, Verbindungslinien? Oder bleibt jeder mit seiner Wahrheit allein?
Welche Wahrheit zählt? Die des Hausierers? Wohl kaum. Die der Frau Heller?
Wie wird es ihr ergehen, wenn sie ins Dorf zurückkehrt und wieder in der
Fabrik arbeiten wird? Die Annemaries? ...
Jedenfalls
scheint die Realität vertrackter und tückischer zu sein, als sich
das mancher denkt.
Fazit
„Es
geschah am hellichten Tag” ist ein guter Krimi. Alles andere steht in Dürrenmatts
„Das Versprechen”, ein Roman, den es sich wirklich lohnt zu lesen. Auch Sean
Penns Interpretation des Stoffs aus dem Jahr 2000 („Das
Versprechen”
mit Jack Nicholson in der Hauptrolle) kommt dem Anliegen Dürrenmatts übrigens
nur stellenweise entgegen.
Wertung:
8,5 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen bei: Yopi.de
Es
geschah am hellichten Tag
(US-Titel:
It Happened in Broad Daylight)
Schweiz,
Deutschland, Spanien 1958, 100 Minuten
Regie:
Ladislao Vajda
Drehbuch:
Friedrich Dürrenmatt, Hans Jacobi, Ladislao Vajda
Musik:
Bruno Canfora
Director
of Photography: Ernst Bolliger, Heinrich Gärtner
Schnitt:
Hermann Haller, Julio Peñja
Produktionsdesign:
Max Röthlisberger
Darsteller:
Heinz Rühmann (Oberleutnant Matthäi), Siegfrit Steiner (Feller), Siegfried
Lowitz (Heinzi), Michel Simon (Jacquier), Heinrich Gretler (Polizeikommandant),
Gert Fröbe (Schrott), Berta Drews (Frau Schrott), Ewald Balser (Prof. Manz),
María Rosa Salgado (Frau Heller), Anita von Ow (Annemarie Heller), Emil
Hegetschweiler (Gemeindepräsident), Hans Gaugler (Herr Moser), Margrit
Winter (Frau Moser), Anneliese Betschart (Lehrerin)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0051588
©
Ulrich Behrens 2004
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