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Die
fabelhafte Welt der Amélie
Polaroids
from Hell
"Amélie
Poulain ist eine kleine Sau", hat einer während der Vorführung
hinter mir gesagt - hab ich geträumt. Im Traum war die ganze Pressevorführung
im Stil eines großen Fressens organisiert. Man konnte während der
Vorstellung auf Bierbänken sich laut unterhaltend Schweinshaxn und Trüffel
reinziehen. "Amélie Poulain ist also eine kleine Sau?", überlege
ich. Nein. Eher kann man sagen, Jean-Pierre Jeunet ist ein kleines Schwein.
Jeunet
kommt aus der Werbung, das ist kein Geheimnis, es war überall zu lesen
damals, als "Delicatessen" anlief. Die gängigsten Werbeformate
sind 28 und 44 Sekunden. Und logisch muss Inhalt in 28 oder 44 Filmsekunden
funktionaler, punktueller vermittelt werden, als in 5400 oder mehr. Und mit
der gleichen Zwangsläufigkeit verwandelt die Werbebranche ihre kreativen
Menschen über kurz oder lang in detailversessene Style-Fetischisten. Da
muss man dann erst mal wieder runterkommen von.
Jeunet
ist nicht runtergekommen. Er hat sich im Gegenteil immer weiter hineingesteigert.
Er hat spielfilmlange Filme gebastelt, in denen eine Pointe die nächste
ablöst, überlagert oder einfach verschluckt, in denen das Farbkonzept
immer auffällig stimmig, die Protagonisten immer auffällig skurril
und die Ausstattung immer auffällig auffällig sind. Diese Filme sind
nicht dumm, sie funktionieren perfekt in ihrer inneren Logik. Das Problem ist
nur: Sie hinterlassen eine Leerstelle im Gehirn des Betrachters.
Die
verspielt ausgefeilten Figuren und das Fantastische der Episoden, die Amélie
im Verlauf des Films trifft und durchläuft, sind nichts anderes als ein
opulentes Menü, das schwer im Magen liegt, dessen letzte Gänge eine
Qual sind. Und wenn die Enzyme ihren Job getan haben, das Blut wieder zirkuliert,
stellt der Tor erschrocken fest: so schlau als wie zuvor.
Das
ist das Problem der zum Selbstzweck erhobenen Ästhetik. Dass sie Inhalt
überflüssig macht, noch perfider: ihn zum Dekor degradiert. Es geht
hier nicht um Verstehen. Es geht nur ums Nettsein, ums hübsch Aussehen,
ums selbstverliebte Konstruieren schöner Bilder. So verpuffen nicht uninteressante
Konstellationen, weil sie keiner Geschichte, sondern nur der Skurrilität
dienen. Dass Amélies Schwarm Nino als moderner Outlaw u. a. in Sexshop
und Geisterbahn arbeitet, dass Amélie als Kellnerin nicht jobbt, sondern
richtig arbeitet, dass Amélies Vater nach dem Verlust der Frau sich in
Gartenzwergfetischismus verliert. Alles Dekor.
Trotzdem
werden genau solche Kulturerzeugnisse am liebsten konsumiert und am höchsten
gelobt. "Einfach schön". Werbeslogans als Bewertungskategorien.
Klar, "Die fabelhafte Welt der Amélie" wird ein Bombenerfolg.
Alle Ingredienzien sind perfekt aufeinander abgestimmt. Eine wunderbar bezaubernde
Audrey Tautou als Amélie, ein prestige- und werbeträchtiger Mathieu
Kassovitz als zweite Hauptfigur, ein Gartenzwerg auf Weltreise, Montmartre als
Wonderland. Die vielen kleinen Ideen, das Pittoreske werden ihre Bewunderer
finden. Da kann einem schon schlecht werden. "Romantische Komödie"
ordnet die Verleihinfo an. Jawollja.
Achim
Wiegand
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt's im archiv mehrere Kritiken
Die
fabelhafte Welt der Amélie(Le
fabuleus destin d'Amélie Poulain), Frankreich 2001. R. und B: Jean-Pierre
Jeunet, B: Guillaume Laurant, K: Bruno Delbonnel, M: Yann Tiersen, P: Claude
Ossard, D: Audrey Tautou, Mathieu Kassovitz, Rufus, Yolande Moreau, Maurice
Benichou, Artus De Penguerin, Dominique Pinon, u. a.
Prokino,
16. August 2001
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