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Fallen
Angels
Ursprünglich war FALLEN ANGELS als dritte Episode
zu seinem Vorgängerfilm CHUNGKING EXPRESS (1994) geplant. Da Wong Kar-wai
jedoch schon mit den beiden Episoden aus CHUNGKING EXPRESS einen Spielfilm füllen
konnte, entschied er sich, aus der dritten einen eigenständigen Film zu
machen, einen dunklen Neo Noir-Thriller und ein experimentelles Drama, das vom
Alleinsein erzählt.
Daran liegt es auch, dass viele Themen aus CHUNGKING
EXPRESS und Wong Kar-wais gesamtem Oeuvre in FALLEN ANGELS aufgegriffen und
weitergeführt werden: die Suche nach Liebe und damit verbunden die Einsamkeit
und Isolation des Menschen in der heutigen Zeit. Die Metropole Hongkong dient
als Schauplatz; sie erscheint düster, als ein mit Neon-Reklamen beleuchteter
Moloch. Wong Kar-wai stellt uns vier Menschen vor, deren Wege mehr oder weniger
miteinander verbunden sind. Da gibt es einen jungen Auftragskiller (Leon Lai),
der seinen Job mag, weil er ein bequemer Mensch ist und nicht gerne Entscheidungen
trifft. In seinem Metier muss er nicht entscheiden, „wer sterben soll und wann
und wo“. Zufällig trifft er einen alten Schulkameraden in der Straßenbahn,
bleibt jedoch wortkarg und lässt nicht den Wunsch erkennen, seiner sozialen
Isolation zu entfliehen. Er ist gewissermaßen ohnmächtig, in eine
Resignation verfallen. Als er sich eine Kugel, die er bei der Ausführung
eines Auftrages abbekommen hat, aus dem Körper entfernt, lässt Wong
Kar-wai ihn emotionslos aus dem Off kommentieren: „Ich hasse es, mir Kugeln
aus dem Körper zu schneiden. Es macht mich immer müde.“ Eines Nachts
begegnet er Punkie (Karen Mok), einer alten Flamme, die er bereits vergessen
hat. „Killer“ stürzt sich in eine flüchtige Beziehung mit ihr und
möchte seine Profession, der er überdrüssig geworden ist, aufgeben.
Die Ausführung seiner Aufträge wird von
„Agent“ (Michele Reis) vorbereitet, die er seine „Partnerin“ nennt und die sein
einziger Kontakt zur Außenwelt ist. Sie faxt ihm Pläne der Orte,
in denen er seine Opfer erschießen soll und räumt seine Wohnung auf.
Beide kommen sich nur geschäftlich näher und treffen sich erst am
Ende ihrer Geschäftsbeziehung persönlich. Sie ist in ihn verliebt,
hegt eine Leidenschaft für ihren Geschäftspartner, von der „Killer“
nichts ahnt. Er sagt, dass sie Teil seines Lebens geworden sei, eine Beziehung
zu ihr kann er sich jedoch nicht vorstellen. Wong Kar-wai zeigt die „Partnerin“
beim Masturbieren in der Wohnung des Killers, wie sie leidet, als er seinen
Job aufgeben will und an ihrer gescheiterten Liebe zu ihm zu zerbrechen droht.
Ein anderer, mit dem ersten flüchtig verwobener,
Erzählstrang zeigt einen stummen Kleinkriminellen namens Ho Chi Mo (Takeshi
Kaneshiro), der nachts bereits geschlossene Läden öffnet und den Passanten
seine Waren aufzwingt. Als Kind hat er einmal eine Dose Ananas gegessen, deren
Verfallsdatum abgelaufen war, und spricht seitdem kein Wort mehr – ein direkter
Hinweis auf CHUNGKING EXPRESS, genau wie der Wohnort Hos: gemeinsam mit seinem
Vater bewohnt er ein Appartement in den „Chungking Mansions“, einer mit Menschen
vollgestopften Wohnanlage Hongkongs. Obwohl Ho nicht mit den Menschen spricht,
sehnt er sich nach Wärme und sucht Kontakt. Deswegen füttert er eine
ganze Familie die Nacht über mit Eis, in der Überzeugung, dass sie
einen glücklichen Abend verbringen; auch wenn sie vom Eis Essen bereits
Magenschmerzen bekommen. Seinen Vater dokumentiert er mit der Kamera, läuft
ihm bis auf die Toilette und ans Bett hinterher. Da auch er nicht gerne spricht,
kommen die beiden gut zusammen aus.
Ho trifft auf die hyperaktive Cherry (Charlie Yeung),
die auf der Suche nach „Blondie“ ist, die ihr den Freund ausgespannt hat. Gemeinsam
mit ihr macht er sich auf die hoffnungslose Suche und verliebt sich in sie.
Beide geben sich gegenseitig Halt, bestätigen und ergänzen sich: während
Cherry durchgängig redet, spricht Ho nach wie vor kein Wort. Er wartet
vergeblich darauf, dass Cherrys Gefühle zu ihrem Ex-Freund ihr Verfallsdatum
erreichen.
Wong Kar-wai greift scheinbar zufällige Momente
aus dem Leben dieser Menschen und verbindet sie lose miteinander. Dabei geht
er nicht primär narrativ vor, sondern fängt Stimmungen ein, bleibt
fragmentarisch und entwirft zusammen mit Stamm-Kameramann Christopher Doyle
ein höchst ästhetisches filmisches Mosaik. Immer wieder deutet er
auf den Faktor Zeit hin und betont, dass alles sein Ablaufdatum hat, nichts
für ewig währt. Seine Protagonisten sind einsam und drohen in dem
Dickicht Hongkongs komplett verloren zu gehen - wenn sie das nicht schon sind.
Mit verzerrten Bildern und einer äußerst experimentellen Ästhetik
fängt er, verstärkt durch schnelle Schnitte und „Jump Cuts“, die Hektik
der Großstadt ein. Zeitraffer zeigen vorbeirasende Autos auf den nächtlichen
Straßen, während die Figuren des Films in ihrer Kommunikation erstarrt
sind. Die extremen Weitwinkelaufnahmen reißen die Charaktere auseinander
und lassen sie weit voneinander entfernt erscheinen. Wieder dienen Wong Kar-wai
die für ihn typischen Off-Kommentare und der Einsatz von Musik, um seine
Charaktere und ihre Konflikte näher zu beschreiben. „Killer“ und „Agent“
etwa kommunizieren mit einem Lied aus einer Juke-Box, der Liebesballade „Forget
Him“.
Inszenatorisch erinnert FALLEN ANGELS an den Stil
von CHUNGKING EXPRESS; er ist jedoch dunkler und hat eine ernstere Atmosphäre.
Die Schießereien lehnen sich an die Ästhetik John Woos an; die Erledigung
des ersten Auftrags in einem Lokal erinnert an Chow Yun-Fats Racheakt aus A
BETTER TOMORROW (1986), wird jedoch audio-visuell völlig umgestaltet. Ähnlich
war es in Wong Kar-wais Erstlingswerk AS
TEARS GO BY (1988). Flüchtige
Bruchstücke von Szenen wechseln mit längeren, statischen Aufnahmen:
Stilistisch gleicht FALLEN ANGELS einer Achterbahnfahrt, es gibt bunte Oberflächenreize
und wilde Kameraexperimente zu sehen; Schwarzweiß- und Stop-Motion-Aufnahmen,
Überbelichtungen und extreme Weitwinkel – Wong Kar-wai nutzt gekonnt das
gesamte Register des Experimentalfilms, um die Stimmungen seiner „gefallenen
Engel“ einzufangen, ohne dabei in eine ausdrucklose MTV-Ästhetik zu verfallen.
Am Ende gibt er keine Antworten, sondern lässt
Ho und „Agent“ auf einem Motorrad durch das nächtliche Hongkong fahren.
Die Strecke, die beide teilen, ist nur kurz; aber im Moment fühlt „Agent“
sich geborgen. Aus dem Off – den Kopf auf Hos Schulter – lässt sie uns
wissen, dass sie lange nicht mehr versucht hat, einem Menschen so nahe zu sein.
Bevor die Kamera (wie zuvor beim Tod von „Killer“) auf den Nachthimmel schwenkt,
streift sie den Rauch von Hos Zigarette, dessen zufällige Form gerade in
der Auflösung befindlich ist.
Christian Horn
Fallen
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DUOLUO
TIANSHI
FALLEN
ANGELS
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Angels - Gefallene Engel
Hongkong
- 1996 - 96 min. - teils schwarzweiß - Verleih: Kinowelt, Arthaus (Video)
- Erstaufführung: 9.1.1997/7.7.1997 Video/5.2.1998 premiere
Regie:
Wong Kar-wai
Buch:
Wong Kar-wai
Kamera:
Christopher Doyle
Musik:
Roel A. Garcia, Frankie Chan Fankei
Schnitt:
Wong Ming-lam, William Chang
Darsteller:
Leon
Lai Ming (Wong Chi-ming)
Michelle
Reise (Agentin)
Takeshi
Kaneshiro (He Qiwu)
Charlie
Young (Charlie Young)
Karen
Mok Manwai (Punkie)
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