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Der
falsche Mann
Dies ist, sagt Alfred Hitchcock, in einem Vorspann,
der ihn - oder eine Gestalt, die ihn darstellt - als schwarzen Körper in
einem nach vorne sich weitenden Lichtkegel zeigt, dies, sagt Alfred Hitchcock,
ist ein Film, der sich von all meinen anderen Filmen unterscheidet. Denn was
hier erzählt wird, versichert die Stimme, die wir uns als zum schwarzen
Körper im weißen Lichtkegel gehörig vorzustellen haben, ist
wirklich geschehen. Es ist die Stimme des Regisseurs und Autors, der hier als
Figur auftritt, die sich innerhalb eines Werks situiert, außerhalb dessen
sie diesen Film nur ansiedeln kann, weil sie es überblickt. Dieser Prolog
ist kein Cameo - das gibt es auch in "The Wrong Man" -, keine verschmitzt
ins Bild geritzte Signatur, sondern ein Kommentar. Ein Versprechen in Klartext:
ein Film von Hitchcock, der sich von einem Hitchcock-Film unterscheidet.
Es gibt in "The Wrong Man" für mich
ein Punctum, von dem mein Blick angezogen wird, eine Stelle, an der der Film
seine eigene Poetik zeigt. Es ist sehr buchstäblich, sehr material eine
Stelle: an der Wand. Ein Loch, aus dem mit unregelmäßigem Umriss
der Putz herausgebrochen ist. Es wäre naiv, hier von einem Einbruch des
Realen zu sprechen, es wäre schon falsch, von einem Einbruch zu sprechen
(oder dem Realen), aber was diese Stelle zum Punctum macht (für mich),
ist doch der Effekt eines solchen Einbruchs. Die Wand ist nicht glatt, etwas
macht sich bemerkbar im Raum, im Bild des Films, der gar nicht explizit darauf
zu sprechen kommt, der keine Anstalten macht, diese Stelle, diesen Riss im Gefüge
seines Bildraums, durch Blickführungen zu betonen. Diese Wand, die Wand,
von der ich spreche, die Wand, die meinen Blick an sich gezogen hat, ohne dass
er dorthin geführt worden wäre, sie befindet sich auf einer Polizeistation.
Sie bleibt Hintergrund für eine Verhörszene, aber es ist diese Art
von Hintergründen, diese Art, Hintergründe zu zeigen, ohne sie zur
Pointe seines Erzählens zu machen, die diesem Film tatsächlich einen
besonderen Ort im Werk Alfred Hitchcocks zuweist. (In "Night of the Hunter"
von Charles Laughton sieht man einmal an einer Wand, die eine Gefängniswand
ist, eine Schrift, die sich nicht entziffern lässt - so genau man auch
hinsieht. Es scheint schwer vorstellbar, dass diese Schrift für den Film
dort angebracht wurde, um dann nicht lesbar zu sein. Aber wenn es so wäre?
Wände in Filmen.)
Eine andere Stelle in "The Wrong Man".
Der Kopf von Henry Fonda vor einer Gefängniswand. Im Plot ist es dieser
Ort: Man hat ihn eines Raubüberfalls auf die Filiale einer Lebensversicherung
verdächtigt, den er nicht begangen hat. Die Zeuginnen identifizieren ihn
bei einer Gegenüberstellung. Er muss vor weiteren Zeugen wie ein abgerichtetes
Tier auf- und abgehen in Läden. Er wird verhört. Er muss in Druckbuchstaben
die Worte des Verbrechers wiederholen und macht den gleichen Fehler wie der
Verbrecher. Er wird dem Haftrichter vorgeführt. Er muss im Gefängnis
seine Taschen leeren, der Inhalt wird genau notiert, den Rosenkranz darf er
behalten. Er muss sich ausziehen, er muss die Gefängniskleidung anziehen.
Er ist der falsche Mann am falschen Ort, er ist unschuldig verhaftet, wir sehen
seinen Kopf vor der Gefängniswand, ihm schwinden die Sinne, die Kamera
beginnt zu kreisen. Sie kreist und kreist, eine geradezu unbeholfene Übersetzung,
möchte man denken, eines Schwindels, des Schwindens der Sinne. Aber das
ist nicht unbeholfen, sondern nur schlicht, direkt. Es ist diese Direktheit
der Mittel, die "The Wrong Man" seinen besonderen Ort im Werk Alfred
Hitchcocks zuweist. (Ein Versprechen. Alfred Hitchcock weiß, was er verspricht.
Er bricht sein Versprechen nicht.) Dazu kommen, ebenso direkt, die Wechsel von
objektiven auf subjektive Einstellungen, der Blick auf Gänge, auf Schuhe.
Großartig, wie die Fahrt im Polizeiwagen zum Gefängnis aufgelöst
wird, ein Blick ins Gesicht des Unschuldigen, der die Augen beschämt auf
den Boden richtet, dann der direkte Schnitt auf die Schuhe der anderen Verbrecher,
nur die Schuhe, nichts weiter. Und die Musik von Bernard Herrmann, die in einfachen
Motivrepetitionen und Unterstreichungen die Bilder weder doppelt noch kommentiert,
sondern sie transponiert in eine andere Sprache.
Zu Beginn blättert Henry Fonda in einer Zeitung.
Es interessieren ihn die Ergebnisse von der Pferderennbahn, er wird dahin zurückblättern.
Aber wir sehen auch eine Anzeige für Autos von Ford, eine Anzeige für
eine Lebensversicherung. Glücksspiele: Pferderennen, Versicherung. Dieser
Mann will das Glück (das Auto, das er sich nicht leisten kann) und wird
vom statistischen Zufall (der Lebensversicherung) verraten. Eine vielfache Blindheit:
des Schicksals, der drei Frauen, die Hitchcock - misogyn wie noch stets - sich
in einer Einstellung zusammenrotten lässt, als wären sie die Hexen
in Macbeth. Er hat keinen Fehler gemacht, er ist nur der falsche Mann am falschen
Ort zur falschen Zeit. Es gibt hier keinen Begriff von Schuld, es gilt nur:
Die Unschuld wird dich nicht retten. Mit einem Schulterzucken macht sich das
Schicksal daran, sein Leben zu ruinieren und nicht nur seines. Der Film dramatisiert
mit der ganzen Kunst seiner fatalistischen Nüchternheit die Folgen eines
unglücklichen Zufalls. Die Strafe ohne Tat trifft nicht nur den Unschuldigen,
sondern härter noch seine Frau, die doppelt unschuldig ist.
"The Wrong Man" entzieht sich dem Werk
Hitchocks, wie sich nur ein Film von Hitchcock diesem Werk entziehen kann. Noch
und gerade der Verzicht auf Suspense ist eine souveräne, eine meisterliche
Geste. Wir bekommen hier nichts zu sehen als Hitchocks finsteres Bild vom Leben
des Menschen in der Welt. Es bleibt der blanke Blick der Frau, die aus dieser
Welt gefallen ist. (Es gibt ein notdürftiges Happy-End. Eine Schrifttafel.
Dürre Worte, denen kein Bild mehr korrespondiert.)
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Jump
Cut
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
Der
falsche Mann
(The
Wrong Man)
USA
1956, 105 Minuten (DVD: 101 Minuten)
Regie:
Alfred Hitchcock
Drehbuch:
Maxwell Anderson, nach seinem Roman „The True Story of Christopher Emmanuel
Balestrero, Angus MacPhail
Musik:
Bernard Herrmann
Kamera:
Robert Burks
Schnitt:
George Tomasini
Darsteller:
Henry Fonda (Manny Balestrero), Vera Mils (Rose Balestrero), Anthony Quayle
(Frank O’Connor), Harold Stone (Lt. Bowers), John Heldabrand (Tomasini), Doreen
Lang (Ann James), Norma Connelly (Betty Todd), Lola D’Annunzio (Olga Conforti),
Dayton Lummis (Richter Groat), Charles Cooper (Det. Matthews), Esther Minciotti
(Mutter Balestrero), Laurinda Barrett (Constance Willis), Nehemiah Persoff (Gene
Conforti), Richard Robbins (Daniel), Robert Essen (Gregory Balestrero), Kippy
Campbell (Robert Balestrero)
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