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Falscher
Bekenner
Alltag als Albtraum
Motorengeräusche. Durch das
Schwarz der Nacht schlängelt sich der Schimmer einer Leitplanke. Aus der
Dunkelheit taucht ein Jugendlicher auf und kommt auf uns zu. Zu Fuß. Auf
der Autobahn. Er gelangt an den Schauplatz eines Unfalls. Der Fahrer des Unfallwagens
sitzt blutüberströmt am Steuer.
Derselbe Jugendliche erwacht in
seinem Bett. Die Kamera gleitet an den Wänden seines Zimmers entlang. Poster
von Autos und Raketenstarts. Poster aus der „Bravo“, die Kadrierung macht Eminem,
Britney und Co. zu kopflosen Körpern. Draußen ist es bereits hell.
Er muss zum Vorstellungsgespräch. Mal wieder. Der Personalchef von „Comtec“
fragt nach seiner Motivation, für diese Firma zu arbeiten. Verlegen stottert
er ein paar Zahlen aus einer Firmenbroschüre herunter. Der Personalchef
von „Comtec“ fragt nach seiner persönlichen Motivation, für diese
Firma zu arbeiten. „Nun, ich interessiere mich für technische Dinge, äh,
bin technisch interessiert, äh, Technik, äh...“ Armin hängt in
der Luft. Der Personalchef von „Comtec“ kann sich das Lachen kaum verkneifen:
„Soso, technisch interessiert also?“ Ein Blick in die Bewerbungsunterlagen,
das Abschlusszeugnis: „Physik: 4, Chemie: 4, Mathe: gerade so eine 3, können
Sie mir das erklären?“ Kann er nicht. Das Vorstellungsgespräch ist
beendet.
Nichts klappt im Leben des 18-jährigen
Armin, der gerade mit der Realschule fertig ist. Nicht die Lehrstellensuche,
nicht das Werben um die Gunst der schönen Katja. Nicht mal zum Bund „durfte“
er, weil seine beiden größeren Brüder da waren, bei denen sowieso
alles viel besser läuft. Armin wäre eigentlich gerne hingegangen.
(Später kann man sich denken, warum.)
Christoph Hochhäuslers Bilder
vom Spießeralltag einer deutschen Provinzstadt bewegen sich in ihrem detailversessenen
Beobachtungswahn knallhart an der Grenze zur Karikatur. Oberflächliche
Gespräche und Gesprächsfetzen am Esstisch und im Bus, Sprüche
an der Toilettenwand, zeremoniell servierter Nachtisch und Sonntagsspaziergänge,
stummes Fernsehen im Rahmen der Familie, während Mutti Schnittchen reicht,
exakt angeordnete Mineralwasserflaschen und Gläser auf einem Konferenztisch.
Diesen Bildern unterlegt er andere. Bilder aus dem Unbewussten eines Jugendlichen,
der sich in dieser Welt nicht zurechtfinden kann. Masochistische Fantasien,
geträumte Wunscherfüllungen. Armin, wie er ein paar Polizisten auf
einer öffentlichen Toilette einen bläst.
Mehr als einmal durchbricht der
Film die Barriere zwischen diesen beiden Bilderwelten. Die Geschehnisse auf
der Autobahn werden zunächst durch die filmische Grammatik als Albtraum
gekennzeichnet, aber später verifiziert. Wie schon in „Milchwald“ trägt
die Tonspur das Ihrige zur bedrückenden Atmosphäre bei: Autolärm
wird zu einem apokalyptischen Unwetter und alltägliche Schritte auf der
Treppe zu unheimlichen Klopfzeichen.
Albtraumhaft auch das Vorstellungstraining,
bei dem alle Teilnehmer weiße Masken tragen müssen. Nicht der Einzelne
ist gefragt, sondern das Team. Schnelle Fragen, schnelle Antworten. „Sie sind
doch ein Teamplayer? Oder nicht?“ Die Massenpsychologie des Kapitalismus. Standardisierte
Fragen bei der Bewerbung um Arbeit und Liebe. „Beschreiben sie sich selbst!“
fordert der Personalchef eines Reisekonzerns Armin auf. „Ich bin 18 Jahre alt,
blonde Haare, blaugraue Augen, 1,74 groß, 56 Kilo schwer.“ „Nennen sie
mir ihre größte Schwäche!“ „Ich hab’ keine.“ „Wie findest du
mich eigentlich?“ fragt Katja bei KFC. „Wenn ich mir einen runterhole, denke
ich an dich.“ Alle Antworten falsch, der Verlierer geht leer aus. Ohne Arbeit,
ohne Liebe. Auf standardisierte Fragen standardisierte Antworten zu
geben, aber so, als kämen sie aus tiefstem Herzen, das erwartet man von
Armin und daran scheitert er. Immer wieder.
Armin will es nicht, kann es nicht
wollen, das Leben, das die anderen ihm vorleben. Er will die Leerstelle in der
Gesellschaft, die seine ach so erfolgreichen und glücklichen Brüder
hinterlassen haben, nicht ausfüllen. Er verzweifelt an der erdrückenden
Fürsorge seiner Mutter. Nirgendwo sieht er eine Alternative. Standardisiertes
Leben. Also schreibt Armin einen anonymen Bekennerbrief, in dem er angibt, für
einen tödlichen Unfall verantwortlich zu sein, bei dem er nur zufällig
Zeuge wurde („DER TERROR IST DA“ titelt die Boulevardpresse am folgenden Tag).
Also wird Armin schließlich vom falschen Bekenner zum echten Saboteur.
Standardisiertes Scheitern eines Realitätsflüchtlings. Ein letzter
Blick aus dem Polizeiautofenster zu Katja. Schwarzblende.
Nicolai Bühnemann
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Falscher
Bekenner
Deutschland
2005
Buch
und Regie: Christoph Hochhäusler
Kamera:
Bernhard Keller
Darsteller:
Constantin von Jascheroff, Viktoria Trauttmansdorff, Manfred Zapatka, Laura
Tonke, Nora von Waldstätten, u. v. a.
Länge:
90 Minuten
Start:
18.5. 2006
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