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Familia
rodante - Reisen auf argentinisch
Himmelfahrt
„Familia rodante“, ein argentinisches Roadmovie
Erfunden wurde das Roadmovie in Argentinien nicht.
Doch das dünn besiedelte Land zwischen Anden, Feuerland und Atlantik ist
wie geschaffen für filmische Reisen durch Raum und Zeit. Die durch Diktatur
und ökonomische Umbrüche erzwungene Brüchigkeit vieler Biografien
trug zur kinematografischen Beweglichkeit bei. Spätestens seit Fernando
Solanas’ „El Viaje“ (1992) gehen argentinische Regisseure auf Achse. Eine Suche
gehört dazu: nach verschwundenen Familienmitgliedern, nach Arbeit, nach
der eigenen Geschichte oder nationaler Identität.
Auch Pablo Traperos dritter Spielfilm nimmt den Zuschauer
mit auf die Reise. „Casa rodante“ ist die argentinische Bezeichnung für
das Wohnmobil. Seine „Familia rodante“ besteht aus 14 Mitgliedern einer Sippschaft
aus Buenos Aires, die mitten aus einer Familiengeburtstagsfeier heraus plötzlich
auf Reisen gehen. Ziel ist die über 1000 Meilen entfernte Provinz Misiones
an der brasilianischen Grenze im Nordosten. Dort soll die 84-jährige Jubilarin
bei der Hochzeit ihrer Nichte Trauzeugin sein. Großmutter Emilia nimmt
die Aufgabe mit Freuden an, denn der ferne Ort ist ihre Heimat. Wohl auch deshalb
will sie, dass die ganze Familie mitkommt.
Ein Chevrolet Wiking 1958 scheint robust. Pannen
gibt es dennoch, nicht nur mit dem Auto. Die Dynamik der Wohngemeinschaft auf
Zeit setzt ungeahnte Gefühle frei: Liebe, Liebschaften, Zahnschmerzen,
Neid. Während die Luft schwüler wird und die Pampa dem Tropenwald
weicht, liegen bei Tanten und Cousins bald die Nerven blank. Wenn man sich prügelt,
gibt das bei einer Großfamilie gleich eine Massenschlägerei.
Trapero und Kameramann Guillermo Nieto haben das
nervöse Treiben impressionistisch eingefangen, dazwischen auch Totalen
paradiesischer Picknickidyllen gestellt. Erst langsam bildet sich aus dem Gewusel
das Hauptthema heraus – Großmutter Emilia, die diese letzte Reise ihres
Lebens immer näher heranführt an verblasste Kindheits- und Jugenderinnerungen.
Ausgesprochen wird das nie. Auch den bei solcher Gelegenheit üblichen Pianokitsch
erspart uns der Regisseur. So ist „Familia rodante“ der seltene Fall einer sentimental journey,
die jede Sentimentalität vermeidet. Ganz am Schluss können wir Emilia
endlich einmal in aller Ruhe ins Gesicht sehen. Es ist das schöne Gesicht
einer lebenserfahrenen Frau. Graciana Chironi, für ihre erste Filmrolle
mehrfach preisgekrönt, ist auch im realen Leben die Großmutter des
Regisseurs.
Silvia Hallensleben
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: Tagesspiegel
Familia
rodante - Reisen auf argentinisch
Argentinien
/ Brasilien / Frankreich / Deutschland / Spanien / Großbritannien 2004
- Originaltitel: Familia Rodante - Regie: Pablo Trapero - Darsteller: Graciana
Chironi, Liliana Capuro, Federico Esquerro, Nicolás López - Fassung:
O.m.d.U. - Länge: 95 min. - Start: 23.2.2006
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