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Family Viewing
Knapp
unter der Decke hängt die Kamera und lässt den Zuschauer schräg hinab blicken
auf das Zimmer des Altenheimes: Man sieht die alte Frau, die schweigsam im Bett
liegt und den jungen Mann, der an ihrer Seite wacht. Der junge Mann steht auf,
geht auf die Kamera zu, blickt den Zuschauer direkt an, und als er seine Hand
ausstreckt, um neben der sichtbaren Leinwandbegrenzung einen Knopf zu
betätigen, ändert sich das Programm: eine Spielshow, weißes Rauschen, ein Tierfilm.
Die Kamera, so wird klar, ist eins geworden in dieser Einstellung mit dem
Fernseher, der im Zimmer des Heimes unter der Decke hängt, der Apparat, der die
stummen Blicke sonst nur auf sich zieht, blickt mit der Kamera zurück.
Es
gibt zahlreiche solcher Szenen in Atom Egoyans frühem Werk Family Viewing -
Szenen, die vom Verschwimmen von Wahrnehmen und Wahrgenommen-werden handeln,
vom Verschwimmen der Medien Film und Video, aber auch vom Verschwimmen ganzer
Existenzen: Der junge Mann, Van (Aidan Tierney), der neben dem Bett wacht,
nutzt den Augenblick, in dem die Bettnachbarin seiner Großmutter verstirbt, um
die Körper der beiden unbemerkt auszutauschen. Seine Verwandte ist damit
offiziell nicht mehr am Leben und so dem lieblosen Einfluß ihres Sohnes, Vans
Vater Stan (David Hemblen), entzogen. Von jetzt an kann sich Van um die alte
Frau auf eigene Faust kümmern, außerhalb des menschenunwürdigen Heimes, bald
jedoch wieder eingeholt von dem überwachenden Netz, in dem all die Figuren in
Family Viewing sich verfangen: Vans mißtrauischer Vater heuert einen
Privatdetektiv an, der mit einer Videokamera die Wege des Sohnes aufzeichnet.
Die regelrechte Aufzeichnungswut der Figuren nimmt in Egoyans Universum
teilweise groteske Formen an - so etwa, wenn die Beerdigung der verstorbenen
Zimmernachbarin von Van auf Video aufgezeichnet wird, um diese dann der aus dem
Urlaub zurückkehrenden Verwandtschaft der Verblichenen in einem
Elektronikgeschäft auf einem Testgerät vorzuführen.
Family
Viewing thematisiert die Überwachung in all ihren Formen, die Bilder des Films
werden oftmals zu Bildern der Überwachungskameras, die überall in den Gebäuden
zu hängen scheinen, die Blicke der Kamera und die der Personen werden immer und
immer wieder aufgezeichnet und abgespielt. Die Figuren bilden entgegengesetzte
Pole in diesem Kraftfeld der gegenseitigen Kontrolle und Vans Vater ist
derjenige Pol, in dem sich die Perversionen des Aufzeichnens am deutlichsten
spiegeln: Sogar sein Liebesleben kann er nur vollziehen, wenn es eingespannt
ist in ein verwirrendes Spiel von Übertragung, Aufzeichnung und Kontrolle:
Gefilmt von zwei Kameras - einer selbst installierten und der des Regisseurs -
vollziehen Stan und seine Geliebte Sandra (Gabrielle Rose) lediglich jene
Handlungen, die ihnen aus der Ferne über eine Telefonsexhotline vorgegeben
werden. Die Videokamera, mit der Stan seine Liebesakte filmt, überspielt damit
ausgerechnet jene Aufnahmen, die die Kindheit seines Sohnes dokumentierten,
Videoaufnahmen, deren grobkörnige Bilder einer vergangenen Zeit zu einer
Metapher für die ebenso unscharfen Erinnerungen Vans und seiner Großmutter
werden.
Diese
im Medium Video metaphorisierte Erinnerung ist neben der Überwachungsthematik
das zweite große Motiv bei Egoyan, das er auch in Next of Kin und Calendar
ausführlich untersucht. Egoyan ist fasziniert von der Möglichkeit des
Videobandes, aufzuzeichnen und gleichzeitig zu löschen. Das Video kann, was der
Film nicht vermag: Einmal belichtet, behält Filmmaterial sein Bild fest
eingeschrieben, eingraviert, bis es verblasst. Die Zeichnungen des Lichtes auf
der Oberfläche des Films sind nicht einfach überspielbar wie die magnetische
Aufladung des Videobandes, auf dem verschiedenste Eindrücke, alte und neue, ein
Patchwork von Aufnahmen hinterlassen, die sich gegenseitig verdrängen, löschen
oder ergänzen. "He likes to record" sagt Sandra an einer Stelle des
Filmes zu Van. "No" ist die Antwort, "he likes to erase."
Family Viewing ist ein großartiger Film über die Zusammenhänge von Erinnern und
Aufzeichnen, über die Momente der Überwachung, aber auch der Tilgung, die jedem
Aufzeichnungs- und somit Erinnerungsvorgang inhärent sind.
Benjamin
Happel
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Family Viewing
Atom Egoyan
Kanada,
1987
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