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Fanny
und Alexander
Inhalt:
Uppsala,
Schweden, im Jahre 1907: Das Leben der großbürgerlichen Theaterfamilie
Ekdahl wird radikal verändert, als Oscar Ekdahl, Leiter des bedeutenden
Theaterunternehmens und quasi Oberhaupt der großen Familie, unerwartet
verstirbt. Seine Frau Emilie heiratet nach einer langen Zeit des Kummers und
der blindwütigen Arbeit den Bischof Edvard Vergerus, der ihr ein neues
Leben in völliger Reinheit vor Gott versprochen hat. Gemeinsam mit ihren
beiden Kindern, Alexander und Fanny, zieht sie mit ihrem neuen Ehemann auf dessen
Anwesen, wo dieser mit eisiger Strenge regiert. Als sich herausstellt, wie sehr
gerade die beiden Kinder unter dem sadistischen Regiment des Kirchenmannes zu
leiden haben, setzt der Rest der Familie alles daran, Emilie, Fanny und Alexander
wieder zu sich zu holen.
Kritik:
Es
gibt einige Filme, denen eine der wertvollsten, wenngleich auch am seltensten
ausreichend gewürdigten Eigenschaften innewohnt: Sie interessieren. Ich
spreche bewusst nicht von "unterhalten", denn gut "unterhalten"
kann ich mich selbst dann, wenn ich auch eine halbe Stunde nach dem Anschauen
des Films die Details der Handlung kaum mehr wiedergeben kann. "Interessieren"
geht weit über "unterhalten" hinaus, liegt eher im Bereich von
Empathie und einer ebenso empathischen Wirkung seitens des Films. Wir fühlen
uns von den Charakteren, ihrem Leben, ihrem Handeln, den Konflikten seltsam
angezogen; es besorgt und verfolgt uns regelrecht, was mit ihnen geschieht.
Der Schöpfer des Films erreicht hier Enormes: Sein eigenes, immer vorhandenes
Interesse an den Figuren seines Werkes versteht er so stark durch sie zu übermitteln,
dass es scheinbar direkt auf den Zuschauer projiziert wird. Auf rätselhafte
Weise werden wir in Bann geschlagen, sind begierig auf das "Erzählt-bekommen",
auf Geschichten und Gefühle - wir verfallen gleichsam in einen kindlichen
Status, in dem wir uns tragen lassen durch eine gewaltige Erzählung, und
voller Interesse einfach nur zu- und immer mehr hören wollen. Nur sehr
wenige Werke der Kunst erreichen diesen Zustand, in welchem sie ihren Rezipienten
quasi völlig für sich vereinnahmen. Fanny
Och Alexander
schafft es - in der vollständigen Fassung gar über fünf Stunden
lang.
Wie
kein anderer Regisseur hat Ingmar Bergman seit jeher die dunkelsten Seiten der
menschlichen Seele erforscht. Er kreierte Filme, in denen der Mensch an seinen
Zweifeln zerbrach, die Sehnsucht nach Glaube und Gottvertrauen keinen Halt mehr
finden konnte und in dem Vertreiben von der Vorstellung jeglicher möglichen
Existenz einer "höheren Ebene" aus dem Bewusstsein mündete.
In manchen seiner Filme, gerade in aus den 60er-Jahren, hat man das Gefühl,
Bergman habe den Menschen Gott verwerfen lassen, und zeige nun eine Welt, in
der Gott entweder abgewandt und abstinent, oder sogar "tot" ist. Die
Menschen, die nun noch in dieser von Gott verlassenen Welt leben, sind gekennzeichnet
von Exploitation unter einander, menschlicher Kälte, innerer Leere, Neid
und Selbsthass. Unvergessen sind jene Schlussbilder aus Tystnaden
(Das
Schweigen,
1963), wenn sich die beiden Schwestern, seit ihrer frühesten Kindheit über
Inzest aneinander gebunden, wortlos trennen, während eine von ihnen an
einer Lungenkrankheit sterbend im Bett liegt: Eisiges Schweigen wird zum Ausdruck
von Zerrissenheit, Haltlosigkeit, Schmerz, Unsicherheit und Desinteresse aneinander.
Keine Kraft existiert, die sich in dieses Ende einschalten könnte, die
irgendetwas zum Guten zu wenden vermag. Der Zuschauer weiß dies von Beginn
an und findet sich in einer Umgebung völliger seelischer Katatonie wieder,
in der jede Hoffnung auf ein Einwirken des "Übernatürlichen"
vergebens ist. Bergman selber konnte sich mit diesen Menschen, die den Großteil
seines filmischen Oeuvres begleiten, durchaus identifizieren. Von unbändiger
Abneigung gegenüber sich selber, und einer großen Verzweiflung über
seine Unfähigkeit zu glauben angetrieben, brachte er einmal mit einem Zitat
über einen anderen Film und einen anderen Filmemacher präzise auf
den Punkt, was wir in seinem eigenen Schaffen immer wieder finden: "Plötzlich
fand ich mich selbst vor einer Tür stehend, zu der mir bislang niemand
die Schlüssel geben konnte. Es war ein Raum, den ich schon immer betreten
wollte, und in ihm bewegte er sich frei und mit völliger Leichtigkeit.
Ich fühlte mich ermutigt und zufrieden: Jemand vermochte auszudrücken,
was ich immer sagen wollte, ohne zu wissen, wie." Mit diesem Ausspruch
über Andrei Tarkovskys Andrei
Rublyov
(1969) verdeutlichte Bergman, dass auch seine Filme immer die einer langen und
qualvollen Suche waren. Einer Suche, die bei beiden großen Meistern, Bergman
wie Tarkovsky, von ähnlicher Verzweiflung geprägt war, jedoch zumeist
gänzlich unterschiedlich endete. Denn während Tarkovskys späte
Werke immer mehr Hoffnung ausdrückten, wurde Bergman stetig finsterer und
beendete sein Streben letztlich in der schieren Unerträglichkeit und Qual
von Viskningar
Och Rop
(Schreie
Und Flüstern,
1972). Man muss ganz deutlich sagen, dass sie mit diesem Film ultimativ endete,
denn alles, was danach kam, ging weitgehend andere, häufig "konventionell"
sozialkritische Wege. Zehn Jahre lang brachte Bergman mit dieser Phase seines
Schaffens zu, bis er sich entschloss, dem Kino ein Lebewohl zu sagen - und Fanny
Och Alexander
zu drehen.
Wozu
dieser ausschweifende Überblick über Bergmans (Früh)werk, wenn
es doch hier um einen völlig anderen Film geht? Das mag man sich mit Recht
fragen, und dennoch liegt die Beantwortung der Frage schon in ihr selbst: Um
das Wunder von Fanny
Och Alexander
zu verstehen, gilt es zu erkennen, dass dieser Film wie ein Testament, geradezu
ein Vermächtnis angelegt ist. Somit hat er gleichermaßen sehr viel
und sehr wenig von dem in sich, was man filmhistorisch wohl als typisch "bergmanesk"
ansehen würde. Er ist ein Epos von schier erschlagenden Ausmaßen
und somit schon einmal rein in der Form höchst konträr zu den meisten
"klassischen" Bergman-Filmen, die selten viel länger als 95 Minuten
dauerten, sehr gebündelt und fokussiert wirkten. Auch hatten gerade jene
seiner Filme, die sich mit Glaubensfragen beschäftigten, immer etwas von
einer inneren Unruhe an sich. Sie mussten gemacht werden, weil ihr Regisseur
durch sich selbst dazu gezwungen war. In Fanny
Och Alexander
ist dem nicht so; an praktisch keiner Stelle wirkt der Film wie das Resultat
eines "Kampfes", sondern oftmals viel mehr wie das einer Zeit der
Ruhe, in der der "Kämpfende" zu sich selbst gefunden zu haben
scheint, und seine "Schlachten" quasi Revue passieren lässt.
Bergman zollt sich selber wunderbarste Reminiszenz, ist dabei natürlich
immer er selbst und dennoch erscheinen uns die Bilder des Films wie eine Betrachtung
von Ingmar Bergmans Schaffen durch eine dritte Person: Tief persönlich
und dennoch geprägt von einer gelassenen, ruhig beschreibenden Objektivität.
Es ist ein Film, in dem der Puppenspieler ein letztes Mal die Fäden seiner
Marionetten sorgsam sortiert, um sie anschließend an den Nagel zu hängen.
Er tut dies mühelos, gänzlich unverkrampft, ohne falsche Selbstüberhöhung,
wunderschön und mit der lustvollen Fabulierkunst eines großen Geschichtenerzählers.
Tatsächlich
ist Fanny
Och Alexander,
den Bergman für das schwedische Fernsehen in vier Episoden konzipierte,
und später dann in einer auf drei Stunden gekürzten Fassung in die
Kinos der Welt brachte, der am meisten narrative Film, den ich kenne. Wenn man
ihn einmal in seiner kompletten Fassung genießen durfte, dann ist man
nach dem Anschauen unmittelbar mit dem Gefühl konfrontiert, das sich aufbaut,
wenn man gerade einen langen Roman klassischer Weltliteratur zu Ende gelesen
hat: Entsetzliche Leere. Über eine so große Zeitspanne hinweg hat
man das Leben der Figuren des Buches geteilt, dass man diese nun regelrecht
vermisst, dass man kaum wahrhaben möchte, dass man schon am Ende angelangt
ist. Fanny
Och Alexander
evoziert dieses Gefühl in seiner ganzen schmerzvollen Schönheit. Man
fühlt sich einsam und zurückgelassen nach dem Film, während es
zugleich schwer fällt, wieder Gedanken zu fassen, die sich nicht um das
Schicksal der Ekdahl-Familie drehen. Auf eine ganz eigene Art möchte ich
Fanny
Och Alexander
immer das Adjektiv "viktorianisch" zuordnen. Nicht nur, weil das Meisterwerk
in eben jener so titulierten Epoche spielt, sondern auch, weil er mich an die
gewaltigen Romane von Charles Dickens mehr erinnert, als an die hoch komplizierten
Konfliktfilme, denen Bergman über weite Strecken seines Lebens verpflichtet
war.
Bergmans
Abschiedsfilm beginnt, wie er endet: Im rauschenden Fest. Es ist Weihnachten
im Jahr 1907 und in Uppsala kommt eine von Schwedens prominentesten Familien
in ihrer großen Anzahl zusammen, um diese Feier zusammen zu begehen. Die
Ekdahls sind ein faszinierender Clan: Eine Theaterfamilie von höchstem
sozialen Rang, reich, weit verbreitet und stets etwas frivol. Im Anwesen der
Mutter und Großmutter der Familie, Helena Ekdahl, führt Bergman uns
sein Ensemble vor. Ein Kabinett voller skurriler Köpfe und vieler, vieler
Fassaden und Zierden. Es finden sich erfolgreiche Geschäftsleute aus dem
Theatermilieu mit ihren Dienern und Angestellten, ebenso wie gebrochene Persönlichkeiten,
und Bergman macht sich gerade aus diesen einleitenden Sequenzen viel Spaß:
Genüsslich inszeniert er Ränkespiele zwischen der feinen Gesellschaft
und der enormen Schar der Bediensteten, zeigt existentialistische Konflikte,
wie den zwischen dem cholerischen Neurotiker Carl Ekdahl und dessen deutscher
Frau, zelebriert förmlich jede Geste, jeden Dialog und jede Einstellung.
Niemals nutzt Bergman einen seiner Charaktere zugunsten der Handlung aus, sondern
entwickelt in der vollständigen Fassung des Films ein bruchloses, tiefgehendes
Sittengemälde von immenser Detailliebe in der Darstellung von Personen
und Requisiten. Vor allen Dingen in diesen Anfangsszenen glüht Fanny
Och Alexander
zuweilen vor reiner Verliebtheit in das Filmemachen. Wenn etwa ganz zu Beginn
des Filmes Alexander, ein verschlossen und rätselhaft, wenngleich auch
trotzdem lebhaft wirkender Junge von 10 Jahren, in einer traumartigen Sequenz
durch das Haus irrt, nach einigen Personen ruft und schließlich eine kurze
Begegnung mit dem Tod, dargestellt mit Sense und schwarzer Kutte, hat, entfaltet
sich hieraus zweierlei und stellt eine der großen Qualitäten des
Films dar: Bergman erinnert in diesen wenigen Einstellungen liebevoll an zwei
seiner großen Meisterwerke, Smultronstället
(Wilde
Erdbeeren,
1957) und Det
Sjunde Inseglet
(Das
Siebente Siegel,
1957), und verifiziert hiermit den Status von Fanny
Och Alexander
als seine Verabschiedung von der Filmwelt, etabliert aber auch gleichzeitig
eine der wichtige Eigenschaften seines Hauptcharakters, nämlich dessen
Affinität zum Übersinnlichen, zu Geistern, Dämonen und Erscheinungen.
Bergman gelingt es auf wundersame Weise über die gesamte Spieldauer des
Werkes hinweg, das Persönliche und den Abschied seiner selbst stets in
den Dienst der im Film dargestellten Figuren zu stellen, seine eignen Erinnerungen
und Empfindungen in ihre Entwicklung und ihr Handeln zu investieren. Fanny
Och Alexander
ist konsequent kein bemühtes Alterswerk und keine verkrampfte Selbsthuldigung,
sondern ein voll entwickelte, eigenständige Geschichte, die durch die Einbindung
des so ungemein interessanten Charakters des Ingmar Bergman nur noch mehr an
Kraft und Belang erreicht.
Auf
der rein erzählerischen Ebene ist der Film bis zu einem gewissen Punkt
praktisch einfach entwickelt: Es geht um zwei Kinder, ihre Familie und die Ehe
ihrer Mutter mit einem sadistischen Kirchenmann, aus dessen Fingern sie möglichst
schnell entkommen wollen. Konventionell und wenig innovativ erscheint uns die
Handlung gerade dann, wenn man mit den komplexen, schon beim Überfliegen
philosophisch anmutenden Handlungskonstrukten vieler anderer Bergman-Filme vertraut
ist. Doch schon immer war es eine der wundersamsten Fertigkeiten großer
Künstler gerade aus dem Einfachsten das Vielfältigste herauszufiltern
und festzuhalten. Und so ist Fanny
Och Alexander
dann auch über fünf Stunden lang ungeheuer fesselnd, weil Bergman
es versteht, eine simple Geschichte so zu erzählen, dass wir immer wissen
wollen, wie sie weitergeht, dass wir nie das Gefühl haben, bereits einen
vorzeitigen Höhe- und Endpunkt zu erreichen, wenn der Film eigentlich noch
eine halbe Stunde Laufzeit vor sich hat. Der begnadete Filmemacher setzt hingegen
immer konkrete "Ziele", die erreicht werden müssen. Das Gerüst
bleibt hierbei stets einfach; den Weg aber gestaltet Bergman immer voller Kunstfertigkeit,
Brillanz und Überraschungen. Auf besondere Art überwältigend
ist hierbei gerade jener lange Abschnitt des in mehrere Akte, einen Pro- und
einen Epilog unterteilten Films, der im Haus des Bischofs Vergerus spielt. Fanny
und Alexander sind mit ihrer Mutter Emilie in das Anwesen des Bischofs gezogen,
nachdem dieser der lange Zeit über den Tod ihres Mannes Oscar trauernden
Emilie ein neues, erfüllendes Leben versprochen, und sie schließlich
geheiratet hat. Unter den famosen Bildern vom genialen Kameramann Sven Nykvist,
der Bergman ab den 60er-Jahren praktisch seine gesamte Karriere hindurch begleitete,
entwickelt sich hier eine Atmosphäre des blanken Grauens: Der Bischof führt
in seinem Haus ein regelrechtes Regime, lässt über die ausschließlich
weiblichen Angestellten die beiden Kinder bei allem Überwachen was sie
tun, drängt auf bedingungslose Enthaltsamkeit und Disziplin und setzt bei
seinen drakonischen Bestrafungsmaßnahmen die grinsende, belehrende Maske
eines heuchlerischen Hüters über Anstand und Moral auf. In einer der
unangenehmsten Szenen des Films zieht er Alexander dafür zur Rechenschaft,
dass dieser eine Geschichte erfunden hat, nach der der Bischof vor Jahren seine
erste Frau und deren Kinder in den Tod getrieben haben soll. Mit einem Teppichklopfer
schlägt er Alexander förmlich zusammen, während die Bediensteten
nebst Alexanders Schwester Fanny um ihn herumstehen, unterschiedlich in ihren
Reaktionen. Während eine der Frauen Alexander festhält, wenden sich
andere mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck ab. Bergman filmt die gesamte
Sequenz über praktisch ausschließlich in Großaufnahmen der
Gesichter der Beteiligten und kreiert aus diesen Einstellungen verbunden mit
dem klatschenden Aufprall des Teppichklopfers eine Szene von ungemeiner Brutalität,
die aber wieder aufzeigt, wie sehr er Persönliches mit Filmischem zu verbinden
versteht: Die Detailaufnahmen von Gesichtern waren über lange Zeit eines
der filmischen "Markenzeichen" Bergmans, die seine Filme unverwechselbar
machten. Gleichzeitig ist diese Reflexion und Einbringung eines seiner klassischsten
Stilmittel aber ganz und gar der Handlung und der Erschaffung einer bestimmten
Stimmung unterworfen und keineswegs in der Nähe des Selbstzwecks.
Auch
die Charakterisierung des Bischofs selber ist wie alles im Film in zweifacher
Hinsicht bedeutungsvoll: Zum einen stellt er im Film den urtypischen Antagonisten
dar, zum anderen ist er eine Abrechnung Bergmans mit seiner eigenen Kindheit.
Der 1918 in (natürlich) Uppsala geborene Regisseur war selbst Sohn eines
lutherischen Geistlichen, unter dem er immens zu leiden hatte. Er verabscheute
die von ihm empfundene Strenge und Unterkühltheit der organisierten christlichen
Kirche, und lässt Bischof Vergerus in Fanny
Och Alexander
auch folgerichtig als arroganten, drangsalierenden Sadisten auftreten, bis er
schließlich sozusagen vom Judentum entmachtet wird: Denn eines Tages steht
Isak Jacobi, ein alter Freund der Familie Ekdahl, vor der Tür des Bischofs
und entführt mit einer (in ihrer Unabsehbarkeit völlig überraschenden
und geheimnisvollen) List die beiden gequälten Kinder in eine Welt voller
jüdischer Mystik und Geheimnisse. Jacobis Puppengeschäft ist der Schauplatz
der vielleicht schönsten und wichtigsten Sequenzen des Films: Bergman summiert
hier das wichtigste Element seiner Arbeiten in einer einzigen, langen und überragenden
Szene. Jacobi (hinreißend von Erland Josephson gespielt), sitzt im Zimmer
der beiden gerade eingetroffenen Kinder und liest ihnen zum Einschlafen eine
hebräische Geschichte vor. In ihr geht es um Menschen, die ihr ganzes Leben
lang auf einer staubigen, endlosen Straße nach etwas suchen, und immer
vergessen, was es ist. Während sie wie besessen ihren Zielen nacheifern,
vergessen sie, dass am Wegesrand Wasserquellen aus dem Boden entspringen, die
sich aus dem Regen einer Wolke gebildet haben, in der alle Tränen der Menschheit
gesammelt sind. Nur ein einziger von ihnen, ein alter Mann, macht sich auf,
das heilige Ziel zu verwerfen und die Quellen an sich zu suchen, die er selbst
einmal ungeachtet ließ.
Irgendwie
erscheinen uns jene Worte der Erzählung sogleich wie die eines Künstlers,
der seinen Kampf gewonnen und sich endlich selbst gefunden hat. In diesem einen
Abschnitt ist Bergman so weise und so "vollkommen", wie er es bei
aller Meisterlichkeit zuvor nie war. Immer ließen seine Filme Fragen im
Raum stehen, warfen Ansätze auf, und regten zum Nachdenken und zur von
hochtrabenden Interpretationen getragenen Diskussion an. Fanny
Och Alexander
aber ist kein Film zum Interpretieren, sondern einer, bei dem das Wesentliche
ganz klar und greifbar auf der Hand liegt. Fraglos gibt es zahlreiche Abschnitte
und Momente im Film, in denen das Übernatürliche Einzug hält
und sogar so etwas wie eine "göttliche Intervention" stattfindet.
Doch diese wirken immer wie Axiome, die sich nicht herleiten lassen, und Bergman
findet hierfür ganz am Ende des Films die vielleicht glorreichste, einfachste
und schönste Erklärung, wenn er die alte Helena Ekdahl zeigt, die
sich auf eine Vorführung von August Strindbergs "Das Traumspiel"
vorbereitet, und dazu die ersten Zeilen des Stückes liest: "Alles
kann passieren, alles ist möglich und wahrscheinlich. Raum und Zeit existieren
nicht. Gegen einen matten Hintergrund der Realität erstreckt sich die Phantasie
und webt neue Muster." Danach färbt die Leinwand sich rot und der
Abspann beginnt. Keineswegs ist es aber das Rot des kalten Blutes in Viskningar
Och Rop,
sondern ganz und gar jene strahlende Farbe der Wärme, Liebe und Zuversicht,
wie sie sich manchmal in den schönsten Alterswerken großer Maler
findet.
Janis
El-Bira
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Fanny
und Alexander
(Fanny
och Alexander, 1982)
Regie:
Ingmar Bergman
Premiere:
17. Dezember 1982 (Schweden)
Dt.Start:
08. Oktober 1983
Drehbuch:
Ingmar Bergman
FSK:
ab 16
Land:
Schweden, Frankreich, Deutschland
Länge:
309 min
Darsteller:
Bertil
Guve (Alexander Ekdahl), Pernilla Allwin (Fanny Ekdahl), Börje Ahlstedt
(Carl Ekdahl), Ewa Fröling (Emilie Ekdahl), Allan Edwall (Oscar Ekdahl),
Jarl Kulle (Gustav Adolf Ekdahl), Gunn Wallgren (Helena Ekdahl), Erland Josephson
(Isak Jacobi), Pernilla August (May), Christina Schollin (Lydia Ekdahl), Mona
Malm (Alma Ekdahl), Svea Holst (Fräulein Ester), Jan Malmsjö (Bischof
Edvard Vergerus), Kerstin Tidelius (Henrietta Vergerus), Harriet Andersson (Justina),
Kristina Adolphson (Siri), Sonya Hedenbratt (Tante Emma), Käbi Laretei
(Tante Anna), Lena Olin (Rosa), Emelie Werkö (Jenny), Anna Bergman (Hanna
Schwartz), Stina Ekblad (Ismael), Mats Bergman (Aron)
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