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Feel
Like Going Home
Walter
Benjamin wollte den technisch reproduzierbaren Künsten keine Aura zuerkennen.
Die Möglichkeit zur Vervielfältigung lasse die Einmaligkeit unmöglich
werden, die jedes Kunstwerk auszeichne, glaubte er. Er hat sich, Gott sei Dank,
geirrt. Das sich zersetzende Material und die ausbleichende Farbe alter Filme
läßt einen teilhaben an dem Prozeß der Auflösung, in der
jedes Filmmaterial begriffen ist, und erlaubt eine Identifikation mit dem sterbenden
Bild: Loving
a dissappearing image
hat Laura Marks das genannt. Etwas ganz Ähnliches geschieht mit den Tonbandaufnahmen
von John und Alan Lomax, die für die Library of Congress während der
dreißiger Jahre weit über 1000 Blues-Stücke aufgezeichnet haben:
Man verliert sich im Rauschen dieser Aufnahmen, in der Aura, die sie eben doch
auszeichnet, ein jedes Band unterschiedlich gealtert, anders gezeichnet, wie
ein Gesicht. Die knisternden Stimmen der Sklaven, die in Liedern gegen ihre
Frauen wetterten und dabei doch den diktatorischen Farmer meinten, die langsam
verschwindenden Töne, deren Tod einem den Tod so vieler auf den Baumwollfeldern
ein wenig näher rücken läßt. Um die Trauer geht es in diesen
Aufnahmen, und um die Sehnsucht nach Freiheit, und damit transportieren sie,
gerade in ihrem Zersetzungsprozess genau das, worum es im Blues zu gehen scheint.
Es war die richtige Entscheidung von Martin Scorsese, seinen Dokumentarfilm
Feel
like going home
von jenen Archivaufnahmen durchziehen zu lassen - sie geben ihm deutliche Konturen,
sie lassen die Musik tatsächlich spürbar werden.
Scorseses
Protagonist ist selbst auch Musiker: Corey Harris, der vor fünf Jahren
das Blues-Album Greens from The Garden veröffenltichte. Mit ihm reist Scorsese
der Geschichte des Blues nach, quer durch Amerika bis nach Afrika, wo er die
Wurzeln des Blues zu finden versucht. Scorseses Arbeiten haben oft etwas mit
Topografie zu tun: Die Topografie der Stadt, die Travis Bickle in Taxi
Driver
erforscht, die Flucht vom Land aufs Wasser in Cape Fear oder die Landschaften,
die die Kamera in den Spieltischen in Casino entdeckt, sie alle erzählen
vom Reisen und von den rast- und ruhelosen Seelen der Figuren in jenen Filmen.
Zum hundertjährigen Jubiläum des Kinos nahm der Regisseur sein Publikum
mit auf eine Personal Journey
With Martin Scorsese Through American Movies,
und eine Personal
Journey
ist auch sein Film über den Blues geworden - und darum ist die Suche nach
dem Wesen des Blues auch eine Reise zu den Ursprüngen jener Musik. Feel
Like Going Home
ist einer von sieben Filmen zum Blues, die Scorsese produziert hat, neben ihm
selbst haben auch Wim Wenders (The
Soul Of A Man),
Richard Pearce, Chales Burnett, Marc Levin, Mike Figgis und Clint Eastwood Dokumentationen
gedreht über die Geschichte des Blues und seine Gegenwart, über die
persönlichen Erinnerungen der Regisseure und vor allem natürlich die
Musiker, die den Blues zum Erfolg verhalfen.
Großen
Namen spürt Scorsese in seinem Beitrag nach, Muddy Waters beispielsweise,
von dem auch der titelgebende Song stammt, Leadbelly, Son House oder John Lee
Hooker. Neben den wundervollen Archivaufnahmen der Legenden des Blues interviewt
Corey Harris aber auch noch aktive Musiker: Ali Farka Touré, Taj Mahal
und Otha Turner sprechen über ihre Vergangenheit und ihre Beziehung zur
Musik. Es ist ungemein faszinierend, wenn Otha Turner aus seiner selbstgebauten
Zwei-Loch-Flöte Musik hervorzaubert, und erschütternd, wenn man bedenkt,
dass er einer der Letzten war - er starb 2003 -, der diese Musik beherrschte.
Seine Tochter führt nun sein Erbe fort, und was man von dieser jungen Muskerin
zu sehen bekommt, lässt hoffen, dass Traditionen wie jene der Five and
Drum-Musik, die Otha spielte, doch noch nicht vom Aussterben bedroht sind. Scorseses
Reise belehrt einen nicht plump, sie lässt einen erfahren: erfahren, was
Blues eigentlich ist, wie er denkt, wie er fühlt. Man muss wohl zum Blues
werden, um ihn zu verstehen, und darum wird Scorseses Film wahrscheinlich in
10 oder 20 Jahren noch ein wenig besser funktionieren als heute: Wenn die Filmkopie
abgenutzt ist, alt und gezeichnet wie die Gesichter der Musiker, und wenn der
Zuschauer sich mit der sterbenden Kopie des Films so sehr identifiziert wie
mit den zerfallenden Tonbändern und dadurch nicht mehr nur sieht, wo die
Melancholie im Blues steckt, sondern es voll und ganz erlebt.
Benjamin
Happel
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Feel
Like Going Home
USA
2003 - Regie: Martin Scorsese - Darsteller: Corey Harris, Sam Carr, Willie King,
Dick Waterman, Taj Mahal, Otha Turner, Ali Farka Toure, Habib Koité,
Salif Keita - FSK: ohne Altersbeschränkung - Fassung: O.m.d.U. - Länge:
83 min. - Start: 1.7.2004
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