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Fellinis
Satyricon
Traumhafte
Dekadenz ...
Man
fühlt sich versetzt in einen Traum, einen Alptraum zumeist, gespielt gleichsam
sowohl auf der antiken Bühne eines Amphitheaters, wie auch in Unterwelt,
wenn die beiden Studenten Encolpio (Martin Potter) und Ascilto (Hiram Keller)
durch die Gelage und Obszönitäten, frivolen und ekelhaften Schauplätze
Roms zur Zeit Neros wandern. Man wandert mit, wie in einer Galerie von Gemälden,
einzelnen Szenen, und manches Mal hatte ich den Eindruck, dass Fellinis Inszenierung,
die auf den erhaltenen Fragmenten des satirischen Romans „Satyricon“ des Gaius
Petronius (gestorben um 66 n. Chr.) beruht, dem Leidensweg Christi nachempfunden
ist, wie er etwa in den so genannten Stationswegen dargestellt wird. Am Ende
dieses Leidenwegs aber steht keine Erlösung, keine Wiederauferstehung,
keine heilige Dreieinigkeit oder ähnliches.
Die
beiden Jünglinge durchwandern ein finsteres Tal, wetteifern um den jungen
Sklaven Gitone (Max Born) – Pädophilie spielt eine zentrale Rolle in dieser
Zeit –, lernen die verschiedenen Seiten der römischen Gesellschaft kennen,
nehmen am Gastmahl des herrschsüchtigen Trimalcione (Mario Romagnoli),
der sich mit dem Dichter Eumolpo (Salvo Randone) streitet, und dessen Frau Fortunato
(Magali Noël) teil, werden von einem Tyrannen namens Lica (Alain Cuny)
gefangen genommen, der später geköpft wird, werden Zeuge des Selbstmordes
eines Patrizierehepaares, das vorher seine Sklaven in die Freiheit entlassen
hatte. Wie Theseus muss Encolpios gegen den Minotaurus (George Eastman) kämpfen,
der sich dann jedoch als Schauspieler entpuppt. Gewalt, Tyrannei, Laster – was
anderes scheint es in dieser phantastischen Welt nicht zu geben ...
Fellini
zeichnet ein Sittengemälde, das sich von der Vorlage des Petronius sicherlich
an vielen Stellen entfernt hat. Man begegnet skurrilen, abscheulichen, manchmal
märchenhaften Gestalten, fetten Frauen und noch fetteren männlichen
Kolossen, Hermaphroditen, sich Gelagen hingebenden Patriziern, nimmt an fremden
Gebräuchen teil, deren Sinn einem unverständlich bleibt. Fellini,
der andererseits dem fragmentarischen Charakter der Vorlage des Petronius treu
geblieben ist, erzählt nicht, er zeigt, lässt Einblicke zu in unwirkliche
Landschaften, eine verborgene Unterwelt, in der schöne Knaben, die den
Herrschenden in Rom als sexuelles Futter dienen, ebenso zu sehen sind wie Zwerge
und Krüppel, erfolglose Schriftsteller und skrupellose Tyrannen. Diese
Bilderfolge, gepaart mit geheimnisvollen Zeichen und Symbolen, Gebärden
und abrupten Szenenwechseln, deutet jedoch nicht so sehr auf deren Ursprünge
bei Petronius, der seine Zeit satirisch begleitete und die Emporkömmlinge
im Rom Neros einer beißenden und spottenden Kritik unterzog (weswegen
er von einem Günstling Neros beschuldigt und dann in den Selbstmord getrieben
wurde). „Satyricon“ ähnelt in vielem eher Fellinis „Das süße
Leben“ (1960), in dem er die Dekadenz der römischen Schickeria zeigte.
1969 gedreht, sind die Bezüge in „Satyricon“ zur Gegenwart um 1969 – wenn
auch stark verfremdet – doch überdeutlich. Allein der (klassische) Titel
„Satyricon“ verweist schon auf zweierlei: zum einen auf die Satyre, Sagengestalten,
Wald- und Hügelgeister, halb Mensch, halb Tier, berüchtigt wegen ihrer
Bosheit und Lüsternheit, wilde, übermütige Wesen im Gefolge des
Dionysos; zum anderen auf Satire.
Von
vielen als Zeit des Aufbruchs, gar einer revolutionären neuen Aufklärung
und grenzenloser Freiheit verstanden, setzt Fellini – hier, wenn auch in anderen
Zusammenhängen und mit anderen Mitteln, Pier Paolo Pasolini ähnlich
– der Zügellosigkeit und falsch verstandenen Freiheit visuell umgesetzte
Grenzen. Das Betrachten der Bilder und Szenen, Zeichen und Symbole versetzte
mich in einen grotesken, ja bizarren Zustand, von Ekel, Neugier, Hinschauen-Wollen
und Wegsehen-Müssen zugleich geprägt. Das Verhalten der Figuren ist
nur oberflächlich geprägt von einer grenzenlosen Freiheit, im Grunde
von, ja man kann sagen: absoluter Bedeutungslosigkeit. Lust verkommt zum Spielball
der Macht, zum Selbstzweck. Die Süße des süßen Lebens
schmeckt modrig. Der Leichengeruch ist permanent. Das Dekadente ist das Obszöne,
und dies wiederum verleitet gleichermaßen zum Voyeurismus und zur Abscheu.
Dadurch vermeidet Fellini, dass der Betrachter den Standpunkt des Urteilens
und Verurteilens, der Verachtung und der Arroganz einnehmen kann; man fühlt
sich, jedenfalls ab und an, ertappt.
Die
letztlich erschreckende Leere des Geschehens ist im Film nicht von dieser Welt,
in bezug auf die ausgehenden 60er Jahre aber ein bildreicher und symbolischer
Kommentar, sei es zur „freien Liebe“, sei es zur „antiautoritären Erziehung“,
sei es zum sich in manchen (politischen) Kreisen der damaligen Zeit breit machenden
Standpunkt der Allgemeinsetzung der eigenen Maßstäbe, die allesamt
an einem Punkt in ihr Gegenteil umschlagen (müssen): in Zwang, Herrschaft,
Bevormundung.
Es
ist das Traumhafte dieses Films, das die Figuren zu Fleisch und Blut werden
lässt. Es waren Fellinis eigene Träume und seine Relation zur Vorlage
des Petronius, die diese Bilder generierten, angezogen von der Dekadenz und
den Exzessen, die zugleich Neugier und Angst erzeugen und den Zusammenbruch,
den sozialen Kollaps dieser Welten vorausnehmen.
•
D V D •
Erscheinungsdatum:
15.5.2003
Bild:
2,35 Widescreen
Ton:
Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, alle Dolby Digital 1.0 mono
Untertitel:
Französisch, Spanisch, Finnisch, Schwedisch, Norwegisch, Dänisch,
Portugiesisch, Ungarisch, Griechisch, Deutsch und Englisch für Hörgeschädigte
Bonusmaterial:
Keines.
Bild
und Ton sind angesichts des Alters des Films akzeptabel. Leider enthält
die DVD, bei amazon € 19,99, bei CD-Haus-Info [1] € 9,99, kein Zusatzmaterial,
so dass man von einem „Liebhaberpreis“ sprechen muss.
Sicherlich
ist der Film auch nichts für jede(n) und lässt sich ohne einen Einblick
in das übrige Werk des italienischen Regisseurs nur schwer verstehen und
einordnen.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
[1]
http://www.cdhaus.info/cdhaus/dvd-9476931.html
Fellinis
Satyricon
(Satyricon)
Italien
1969, 138 Minuten
Regie:
Federico Fellini
Drehbuch:
Federico Fellini
Musik:
Tod Dockstader, Ilhan Mimaroglu, Nino Rota, Andrew Rudin
Director
of Photography: Giuseppe Rotunno
Schnitt:
Ruggero Mastroianni
Produktionsdesign:
Luigi Scaccianoce, Giorgio Giovannini
Hauptdarsteller:
Martin Potter (Encolpio), Hiram Keller (Ascilto), Max Born (Gitone), Salvo Randone
(Eumolpo), Mario Romagnoli (Trimalcione), Magali Noël (Fortunata), Capucine
(Trifena), Alain Cuny (Lica), Fanfulla (Vernacchio), Danica La Loggia (Scintilla),
Giuseppe Sanvitale (Abinna)
Internet
Movie Database:
http://german.imdb.com/Title/tt0064940
Weitere
Filmkritik(en):
„Chicago
Sun-Times“ (Roger Ebert) (4 von 4 Punkten):
http://www.suntimes.com/ebert/ebert_reviews/2001/07/072705.html
©
Ulrich Behrens 2003 für
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