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Die
Finsternis
Politik als Operette
Diesem Dokumentarfilm von Thomas Tielsch liegt das
linke Flügelstück von Louis-Ferdinand Célines Deutschland-Triptychon,
das chronologisch gesehen dessen Zentrum ist, zugrunde, nämlich „Von einem
Schloss zum anderen“, und das ganz wörtlich, denn es wird viel daraus vorgelesen,
vor allem natürlich von den Zuständen im Schloss dieser Schlösser,
dem in Süddeutschland gelegenen Hohenzollernschloss in Sigmaringen, dem
Ort also, wohin die damalige deutsche Führung die im eigenen Land, also
Frankreich, gefährdete Vichy-Regierung zitiert hatte.
Sigmaringen war eine Enklave, extraterritoriales
Gelände Frankreichs in Nazi-Deutschland, in Berlin legte man Wert darauf,
dass der Schein der Regierungsmöglichkeit gewahrt blieb und de Gaulles
Rückkehr von London nach Paris regierungstechnisch ohne Auswirkung blieb,
da die rechtmäßigen Amtsinhaber ja noch tagten, nur eben an einem
etwas seltsamen Ort, den der Marschall Pétain, Chef der Exilregierung,
niemals als Amtssitz akzeptierte. Der Schein geriet also nicht zum Sein, sondern
zum doppelten Schein, zu einem gespenstischen Aufenthalt, wo es nichts zu entscheiden
gab, bis auf die Notwendigkeit, die eigene lastende Präsenz ab dem Herbst
1944 zu verwalten.
Der Arzt und Schriftsteller Céline stößt
auf die Schloss-Truppe von Berlin kommend, wo die Lage für ihn zu gefährlich
geworden ist. Céline hatte die literarische Welt durch seine seit 1937
erscheinenden antisemitischen Pamphlete skandalisiert. In Sigmaringen stoßen
Kollaborateure auf Kollaborateure. Auf dem Schloss hofft Céline, auf
La Vigue, den bekannten französischen Schauspieler, zu stoßen, mit
dem er bereits die ersten Erfahrungen auf seiner unfreiwilligen Reise durch
Deutschland gemacht und den er im Nordosten Deutschlands aus den Augen verloren
hatte. Als prominente Persönlichkeit darf Céline im Schloss residieren,
zweifellos eine Auszeichnung, wenn da nicht die fatale Lage seines 12 qm großen
Zimmers, das er sich mit sechs Leuten teilen musste, gewesen wäre, das
sich nämlich direkt gegenüber den Latrinen des Schlosses befand. Es
ist grundanständig von Tielsch, Céline bei der grotesken Beschreibung
dieser katastrophalen sanitären Verhältnisse, die natürlich,
wie fast immer, ihre literarische Überhöhung (wenn das Wort bei Céline
überhaupt am Platz ist) erfahren, fast ganz das Wort zu überlassen
und das in Rede stehende Dokument nur ganz verhalten, fast poetisch, zu präsentieren,
denn so viel Scheiße, wie dort geflossen sein muss, kann man gar nicht
mit der Kamera einfangen.
Es ist also so, dass der Text den Film trägt.
Neben Célines Text stellt Tielsch Erinnerungen von Zeitzeugen, aber sehr
zurückgeschraubt und immer ästhetisch behandelt (also nur ganz kurz
eingeblendet, überlagert durch andere Stimmen), sowie Fakten aus den lokalen
Kriegsannalen, wozu auch ein Besuch im Krankenhaus gehört, wo die härtesten
Bilder des Films zu sehen sind, Amputationen, Operationen, Kriegswunden. Natürlich
fällt es schwer, die Stimme des deutschen Rezitators mit Célines
rasendem Organ (das in diesem Film nicht erklingt) in Verbindung zu bringen,
denn die akustische Hektik des Franzosen ist ein direktes Spiegelbild der graphischen
Präsentation auf der Buchseite, also die Sache mit den drei Buchstaben,
das Forteilen, das Assoziieren, Wiederholen etc. Der Autor, Céline, begegnet
dem Zuschauer als Liegender (Statist), im fiebrigen Zustand, fast delirierend,
und es ist doch nichts anderes als die nackte Klarheit, die aus den Zeilen Célines
drängt. Man glaubt, einem alten Mann zuzuhören, einem weisen Märchenerzähler,
der beim Erzählen fast einzuschlafen droht, während Célines
bewährtes Transportmittel, metaphorisch gesprochen, die Metro ist.
Diese Bewegung des Texts versucht der Film durch
das Zusammen- oder Auseinanderfließen der Bilder zu gestalten, man sieht
eigentlich immer mindestens zwei Realitäten, die sich eine Zeit lang zusammen
halten und durch Überblendung dann anderswo weiter gemischt und ersetzt
werden. Aufnahmen, Fotografien aus der alten Zeit werden mit solchen aus der
Gegenwart vermengt, die auf eine andere Art gespenstisch wirken, weil man den
Eindruck erhält, das hier etwas Fundamentales fehlt, das man vielleicht
Leben nennen könnte, Leben, das sich sechzig Jahre zuvor ebendort zugetragen
hatte, in seiner finstersten, aber auch, daran lässt Céline keinen
Zweifel, absurdesten, ja auch lächerlichsten Form. Der Film ist ein guter
Einstieg in das Werk von Céline: Man will mehr lesen, selber lesen.
Dieter Wenk
(11.06)
Dieser Text ist
zuerst erschienen bei:
Die
Finsternis
Deutschland
2005
Regie:
Thomas Tielsch
Produzent:
Thomas Tielsch
Drehbuch:
Thomas Tielsch
Darsteller:
Lotte Rebholz, Kurt Meierhöfer, Heinz Gauggel, Renate Arnaud, Klaus Armbruster
Komponist:
Paul Lemp
Laufzeit:
84 Min.
DVD
Erschienen:
08.12.2006 bei: Absolut Medien
Sprache(n):
Deutsch (Untertitel: Keine)
Bildformat:
16:9
Tonformat:
Deutsch 2.0 Stereo, Englisch 2.0 Stereo, Französisch 2.0 Stereo
Spieldauer:
001:24:00
Systemvoraussetzung:
Kodierungsart: 2. TV-Norm: PAL. Ausgabeformat: 16:9. Aufnahmeformat: 1,78:1.
Sprachversion: Deutsch 2.0 Stereo. Sprachversion: Deutsch Stereo. Sprachversion:
Englisch 2.0 Stereo. Sprachversion: Englisch Stereo. Sprachversion: Französisch
2.0 Stereo, 2/0, MPEG1. Sprachversion: Französisch Stereo, 2/0, MPEG1
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